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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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von seinem Verdacht zu erzählen. Aber noch nicht. Erst
musste er noch ein bisschen mehr über den Harrison-Mord in Erfahrung bringen,
insbesondere über den Inhalt der vierten grünen Aktenbox, die auf so
geheimnisvolle Weise aufgetaucht war und jetzt neben den drei anderen auf einem
Regal im Büro des Chief Inspector stand. Vielleicht am Spätnachmittag, denn mit
der Rückkehr von Morse war heute nicht mehr zu rechnen.
    Und wenn schon!
    Ja.
    Lewis tippte seinen Bericht,
lehnte sich zurück und überdachte den Fall, der jetzt praktisch abgeschlossen
war. Das sah er doch richtig, oder? Allerdings gab es ein paar Kleinigkeiten,
die er noch nicht nachgeprüft hatte und die ihm keine Ruhe lassen würden. Also
los, Lewis: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.
    Sehr weit kam er nicht. Aber
die Alibis für den Montagmorgen spielten im Grunde auch keine Rolle mehr. Oder
vielmehr die Nicht-Alibis, denn weder Harrison senior noch Harrison junior
konnten ja ein Alibi vorweisen. Und das von Sarah Harrison war noch nicht
überprüft.
    Als er im Diabeteszentrum des
Radcliffe Infirmary anrief, kam er erstaunlicherweise ohne Umwege ans Ziel.
Professor Turner — offenbar kein Montag-bis-Freitag-Arzt — bestätigte Miss
Harrisons Aussage in allen Punkten. «Sie musste sogar noch einige meiner
Patienten übernehmen, Sergeant, als ich zum Chef zitiert wurde...»
    «Sie haben also auch einen
Chef, Sir?»
    Nicht schlecht, fand Lewis. So
was in der Art hätte auch Morse sagen können. Näherte sich er, Lewis, nach all
den Jahren vielleicht doch ein wenig der Morse’schen Wellenlänge an?
     
    Um Viertel nach vier ging er
über den Gang zum Büro des Chief Inspector, um den bizarren, rätselhaften Abend
des Mordes an Yvonne Harrison, den Ursprung von so viel Kummer und Leid, von
einer neuen Seite anzugehen.
    Sehr bald war er praktisch
sicher, dass er den Inhalt der vierten Aktenbox noch nie zu Gesicht bekommen
hatte und dass es sich dabei nicht nur um eine Neuverteilung der Asservaten
handelte. Die Box enthielt persönliche Gegenstände der Art, wie sie viele
Frauen und zweifellos auch Männer häufig einigermaßen schuldbewusst in einem
Schubfach ihres Schreibtischs oder ihrer Frisierkommode wegschließen.
    Da fand sich all das, was Lewis
aus langer Erfahrung so gut kannte: Briefe — viele noch in den
Originalumschlägen — von Frauen, meist aber von Männern. Fotos, viele von
Yvonne selbst (eins busenfrei) mit den verschiedensten Freunden. Postkarten aus
allen Winkeln der Welt, vor allem aber aus Griechenland und der Schweiz. Drei
ungeöffnete Flakons mit Parfüm. Quittungen über den Erwerb teurer Kleidung und
Schuhe. So unterschiedlich das dort gesammelte Material auch war — die Box war
kaum halb voll, und Lewis ließ sich Zeit. Mit den Fotos war er (vielleicht mit
einer Ausnahme) ziemlich schnell fertig, danach las er gemächlich (aber nicht
so langsam wie Morse) die Briefe durch.
    Und dann kam es.
     
    dass
sie lieber krank in der Klinik liegen und sich von Ihnen pflegen lassen würden,
als kerngesund zu sein und Sie nie wieder zu sehen. Ich schließe mich Ihnen an.
Seit Tagen kreisen meine Gedanken nur noch um Sie. Seit Ihrem Versprechen —
erinnern Sie sich? dass Sie sich nach meiner Entlassung bei mir melden würden.
Aber keine Einladung, kein Anruf, kein Brief, nichts.
     
    Wenn
Sie zu der Überzeugung gelangt sind, dass es nur eine vorübergehende Neigung
war und auf Ihrer Seite nicht mehr — auch gut. Lassen Sie mich trotzdem noch
eine Weile morgens meine Post durchsehen und hoffen
     
    Das war alles. Nur die kleine
Seite eines längeren Briefes. Kein Datum, keine Adresse, kein Gruß, keine
Abschiedsformel, kein Name. Nichts. Und dennoch alles. Denn der Brief war in
der kleinen, sauberen, aufrechten Handschrift abgefasst, die im Präsidium der
Thames Valley Police jedermann kannte.
    Als er die Seite noch einmal
durchlas, spürte Lewis plötzlich, dass noch jemand im Raum war. Er blickte auf
und sah Chief Inspector Morse schweigend in der Tür stehen.

Kapitel
62
     
    Sag
nicht, Schatz, ich hätt rohe Gier,
    wenn
ich ein Veilchen dir verpasse,
    dein
Hinterteil mit Striemen zier!
    Ich
liebe nur als Kerl von Klasse.
     
    Wir
zwei verschmähn die sanfte Tour,
    lass
doch die Heuchelei,
    du
liebtest es zur Hälfte nur,
    wär
nicht Gewalt dabei.
    (Roy
Dean, Lovelace Bleeding )
     
    Hätte jemand Chief Inspector
Morse beim Wort genommen und sich entsprechend seiner Zusage am Montagmorgen
bei ihm

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