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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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eigenes Bild zurückwarf, ohne dass Sie sich dagegen schützen konnten. Sie lagen falsch, mon Capitaine, heute weiß ich es, die Schwäche verdient sehr wohl unseren Hass, vor allem, wenn sie mit dem exorbitanten Preis einer zusätzlichen Niederlage bezahlt werden muss, und ich möchte Ihnen nicht verzeihen, wäre es auch im Namen der Liebe, die ich Ihnen zeugte und die mich so lange Zeit über blind gemacht hat, dass es mir unmöglich ist, dies zu vergessen, denn ich liebte Sie so sehr, dass ich mich zunächst sogar heiter fühlte, als man mir meinen Reis wieder austeilte, da Sie meinetwegen jetzt nicht mehr auf Ihre Nahrung zu verzichten hatten. Die Vietnamesen fügten dann unseren Rationen noch kleinste Fleisch- und Obststücke hinzu, die wir unter erhöhter Speichelproduktion gegessen haben, ohne etwa herausfinden zu wollen, warum uns dieses Privileg überhaupt zustand. Paul Mattei hatte gesagt Die werden uns freilassen, sie versuchen, uns ein wenig rundlicher zu machen, die werden uns freilassen. Mir wurde klar, dass es sehr lange her war, seit ich aufgehört hatte, an Befreiung zu denken. Ich hatte mich Stück für Stück in einer Welt eingerichtet, deren Grenzen diejenigen des Augenblicks nicht überschritten. Ich hatte mich dann neben Sie gesetzt auf der Plattform des Wagens, der uns in Richtung der Unsrigen brachte und in Richtung einer Welt, die so weit fort war, dass sie uns bereits vergessen hatte. In den Dörfern spuckte niemand mehr auf uns. Bevor sie uns wieder zu französischen Soldaten machten, kam der Politkommissar und schüttelte uns die Hände und niemand von uns verweigerte die Geste. Militärärzte haben uns in ihre Obhut genommen und mir genügte deren Blick, um den Grad meines körperlichen Verfalls ermessen zu können. Von unserer Gruppe waren wir siebzehn Überlebende. Wir hatten uns die Aufgabe, den Familien der Toten zu schreiben, wieder aufgeteilt und wieder war ich derjenige, der von Capitaine Lestrades letzter Stunde zu berichten hatte, von seiner und derjenigen der Lieutenants Thomas und Maury de la Ribière. Sie hatten mich gefragt, ich erinnere es sehr genau, mon Capitaine, Horace, fühlen Sie sich imstande, diese Briefe zu schreiben, da es zählt, wie sie ausfallen? Ich antwortete, dass ich es machen würde, und ich habe es gemacht, erinnern Sie sich, ich habe schon immer gewusst, dass Loyalität etwas der Wahrheit gegenüber unendlich Wichtigeres beinhaltet. Wir haben Ihren Schwager Jean-Baptiste wiedergefunden, in der Bar in Hanoi, die er, in der Erwartung, Sie dort zu treffen, nie verlassen zu haben schien, und wir haben, ohne auf etwas anzustoßen, getrunken, der Alkohol entflammte mich, ich ließ mich von einer Trunkenheit, so endgültig wie der Weltuntergang, davontragen und die Huren, durch und durch leidenschaftlich vor lauter Patriotismus, haben ihre unglaublich fleischigen Arme um unsere Hälse geschlungen, Paul Mattei vergrub sein Gesicht in den Brüsten eines lachenden Mädchens und ich hörte Ihre Stimme, die zaghaft von sich gab Ich bitte Sie, nehmen Sie es mir nicht übel, während Jean-Baptiste versicherte, seiner Schwester nichts zu sagen, und Sie zu ihm wiederholt sagten Nein, darum geht es nicht, und ich hörte auf, an Sie zu denken, mon Capitaine, ich zog das Mädchen nah an mich heran und fragte sie nach ihrem Namen, den sie flüsternd aussprach und dabei ihre Zungenspitze von meinem Ohr zu meinem Mundwinkel gleiten ließ, aber ich wollte sie nicht küssen, das anhaltende Zahnfleischbluten führte in meinem Mund zu einem Eisengeschmack, für den ich mich schämte, ich habe durch ihr Kleid hindurch ihren Hintern berührt und ich habe ihren Duft eingeatmet, auf dessen Grund noch der süßliche Geruch von Kadavern schwebte, bis sie mich dann in ein Zimmer führte, in dem ich den Wohlgeruch lebendigen Fleisches wieder zu erlernen hatte. Ich legte für geraume Zeit meinen Kopf auf ihren Bauch, der weich war wie der Schlamm, es gelang mir, in den Alkoholnebeln ihren Knöchel zu erhaschen, und als meine Finger ihren Fuß zart berührten, hörte ich, wie sie ein leicht amüsiertes Lachen unterdrückte. Noch einmal bat ich sie, mir ihren Vornamen zu nennen, und sie hat ihn wiederholt, mit starker und klarer Stimme, die in der Dunkelheit widerhallte, sie hat ihn wiederholt, aber, schauen Sie, mon Capitaine, ich erinnere mich seiner nicht mehr.

28. März 1957: ZWEITER TAG
    Matthäus, XXV, 41–43

Mit jedem Morgen muss man der Scham, man selbst zu sein, erneut begegnen.

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