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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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Zuvor jedoch ist einem die Gnade einer heimlichen Atempause gegönnt. Der Traum der Nacht zersetzt sich und zieht sich zurück in die Finsternis, er lässt dabei nichts anderes im Herzen des Capitaine André Degorce bestehen als die vage Vorahnung einer zu leistenden Trauer. Er ist ohne Vergangenheit, ohne Familie, ohne Namen. Er liegt nur da, ausgestreckt in seinem Bett, die Augen weit geöffnet, auf eine Morgendämmerung hin, die er nicht wiedererkennt. Nichts existiert bislang auf dieser Welt als das unglaublich beruhigende Bild Tahars, wie dieser auf seinem Strohbett sitzt, gefesselt an Händen und Füßen, und irgendetwas Unsichtbares anlächelt. Capitaine Degorce würde gern noch die Süße der Vergessenheit genießen, aber er kann nicht umhin, sich zu fragen, wer dieser Mann sei, und er entsinnt sich auf brutalste Weise. Das Gedächtnis ist erbarmungslos.
    (Ich bin ein Kerkermeister. Sein Kerkermeister.)
    Zum Sitzen gekommen auf seiner Bettkante, betrachtet er voller Abscheu seine nackten Beine, die Gänsehaut, von Kälteschauder durchlaufen, die borstigen Haare auf der aschfahlen Haut seiner Schenkel. Er kleidet sich unter dem Eindruck, den Blicken ein abstoßendes Geheimnis zu entziehen, an und schluckt eine große Tasse lauwarmen Kaffees hinunter, der ihm Übelkeit verursacht. Er raucht mehrere Zigaretten am offenen Fenster und atmet dabei tief die feuchte und kühle Luft ein. Ein gelbes Licht erhellt den Horizont und von der Casbah her ertönt der Aufruf zum Morgengebet. Als der Muezzin endet, erscheint oberhalb der Gebäude die Sonne. Capitaine Degorce geht durch die menschenleeren Flure. Er hört Gemurmel und Klagen hinter den Türen der Zellen. Zwei Harkis wischen mit Elan einen Befragungsraum. Adjudant-Chef Moreau, auf einer Ecke des Tisches sitzend, scheint von einer missmutigen Kontemplation der Keramikfriese in den oberen Ecken des Raumes in Anspruch genommen zu sein – Mäander abstrakt gehaltener Blumen, gelb, grün und blau, die unter dem kalten Licht der elektrischen Glühbirne merkwürdig glanzlos wirken. Einer der beiden Harkis lässt seinen Schrubber fallen, um in Habachtstellung zu gehen, der andere drückt ihn im Gleichgewicht an sich und tut das Beste, um eine möglichst regelgemäße Haltung einzunehmen. Capitaine Degorce gibt ihnen zu verstehen, dass sie weitermachen mögen, und geht zum Handschlag auf Moreau zu, der sich erhebt, um ihn zu grüßen.
    – Wie geht’s, mon Capitaine? Mögen Sie Kaffee? Wir haben frisch gebrühten.
    Der Capitaine bekundet sein Einverständnis und betrachtet dabei das grau schäumende Wasser auf den Bodenfliesen.
    – Gern, Moreau. Der, den ich eben getrunken habe, war wirklich furchtbar.
    Er folgt dem Adjudant-Chef in ein kleines, zu einer Behelfsküche ausgebautes Zimmerchen. Sie trinken ihren Kaffee schweigend. Capitaine Degorce stellt seine Tasse ab und verzieht sein Gesicht.
    – Der schmeckt auch nicht besser. Aber gut, zumindest ist er warm. Moreau deutet ein Lächeln an.
    – Erlauben Sie mir, mit Ihnen über etwas zu sprechen, mon Capitaine? In aller Offenheit?
    – Das ist die dümmste Frage, die ich je gehört habe, Moreau, sagt Capitaine Degorce voller Humor. Wie soll ich denn Ihrer Meinung nach wissen können, ob ich es Ihnen erlauben soll, ohne zu wissen, um was es sich handelt. Sprechen Sie nur ganz offen. Ich werde Ihnen dann schon sagen, ob Sie nicht besser geschwiegen hätten. Moreau zieht aus seiner Tasche ein Päckchen zerknautschter Gitanes. Er entnimmt ihm zwei Zigaretten, die er lange Zeit glattstreicht, bevor er dem Capitaine eine anbietet. Er greift erneut in seine Taschen auf der Suche nach Streichhölzern.
    – Lassen Sie die Katze aus dem Sack, mein Freund!, drängt der Capitaine und reicht ihm sein Feuerzeug.
    Moreau nimmt sich noch die Zeit, einen tiefen Zug zu machen.
    – Es ist wegen Febvay.
    – Febvay?
    – Sergeant Febvay, mon Capitaine.
    – Ja, und? Haben Sie ihn mir noch nicht nach Tamanrasset geschickt?, fragt Capitaine Degorce und er hasst es, seine Stimme voller trügerisch ungezwungener Heiterkeit zu hören.
    Moreau beschließt, ostentativ nicht zu lächeln, und schaut ihn aufmerksam an, während er an seiner Zigarette zieht.
    (Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Zu gar nichts mehr.)
    – Das genau ist der Punkt, mon Capitaine. Ich wünschte mir, dass Sie Ihre Entscheidung überdenken. Ich glaube, dass es nicht gerecht ist, mon Capitaine. Febvay ist ein guter Kerl.
    – Ein guter Kerl, wiederholt Capitaine

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