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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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Degorce. Ein guter Kerl.
    Er zwingt sich dazu, den in das Geschlecht des Mädchens gerammten Revolver zu vergegenwärtigen, das heitere Gesicht des Sergeant, und noch einmal wiederholt er, beinahe murmelnd: »Ein guter Kerl ...«, und hofft darauf, dass die Wut ihn rettet und ihn mit sich trägt, aber nichts passiert. Es gelingt ihm nicht einmal, sich betroffen zu fühlen.
    (Ich sollte woanders sein, ganz einfach woanders.)
    Er schließt für einen Moment die Augen und die Worte steigen auf.
    – Ich werde mit Ihnen nicht über Ihre offensichtlich interessante Vorstellung dessen, was ein guter Kerl ist, diskutieren, Moreau, denn es interessiert mich nicht und darum geht es hier auch gar nicht, verstehen Sie, ganz und gar nicht. Lassen Sie mich Ihnen erklären, um was es hier geht, und wenn Sie es Ihrerseits verstanden haben, werden Sie vielleicht versuchen können, mir auf effiziente Weise zur Hand zu gehen und dafür Sorge zu tragen, dass die Männer es niemals vergessen, anstatt mir mit der Zusammenfassung ihrer morgendlichen Gedanken zu kommen: es geht um den Sinn unseres Einsatzes, Moreau, es geht um das, was ihn rechtfertigt, und das wiederum ist sehr einfach, sehr, sehr einfach. Unser Vorgehen hat nur Sinn, weil es effizient ist, es ist moralisch gesehen nur akzeptabel, weil es effizient ist, und weil es uns ermöglicht, Leben zu retten ... unschuldiges Leben, Effizienz ist unser einziges Ziel und zugleich ist es wiederum die Effizienz, die uns unsere ... unsere Grenzen setzt, sollten wir sie je aus dem Blick verlieren ...
    – Aber nein, mon Capitaine, wir ...
    – Maul gehalten, wenn ich rede, Adjudant-Chef, Maul gehalten!, sagt Capitaine Degorce schroff und ist sich seiner wiedergefundenen Autorität vollkommen bewusst. Begnügen Sie sich damit, zuzuhören und das Maul zu halten, bis ich Ihnen wieder das Wort erteile, gut, sollten wir die Effizienz je aus dem Blick verlieren, sollten wir den Febvays erlauben, sich abzureagieren und eine perverse Lust auszuleben, eine geile Lust an ... am Ablauf des ... Verfahrens, dann sind wir nicht länger Soldaten, die ihren Einsatz erledigen, dann sind wir ... ich weiß nicht, was wir dann sind. Ich möchte es mir nicht einmal ausmalen müssen. Haben Sie mich verstanden?
    – Ja, mon Capitaine, ich verstehe Sie. Febvay hat eine Dummheit begangen, eine riesige Dummheit, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Und ich habe ebenfalls eine Dummheit begangen, als ich es zuließ.
    – Da haben Sie ganz recht, Moreau. Lenken Sie aber meine Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diesen Aspekt des Problems.
    Capitaine Degorce gießt sich eine weitere Tasse Kaffee ein, ohne von Moreau den Blick abzuwenden. Er hatte soeben ehrenhafte und vernünftige Beweggründe für ein Verhalten gefunden, das am Vorabend, da er sämtliche Kontrolle über sich selbst verloren hatte, durch nichts anderes motiviert gewesen war als die extreme Belastung seiner blank liegenden Nerven. Besonders irritierend war jedoch, dass er nicht einmal die Argumentationskette, die ihn freisprach und rechtfertigte, hatte ausarbeiten müssen, sie war bereits vorhanden, war umgehend da, er hatte sie bereits zigfach aus dem Mund seiner Vorgesetzten gehört, und dass er sie sich jetzt mit derart viel Gewandtheit und Überzeugungskraft hatte zu eigen machen können, indem er sie bis ins kleinste Detail hinein mit seinen Verzögerungen, seinen Schamgefühlen und Euphemismen nachbildete, lag nicht etwa daran, dass er nicht ihr Urheber gewesen wäre, sondern daran, dass es ihm vollkommen genügte, sich von dem machtvollen Strom durchfließen zu lassen, der ihn durchlief wie Abwasser einen Kanal, ein Strom an Worten, deren makellose Verkettung ihm weder seine Kollaboration noch seine Zustimmung abverlangte. Und dennoch hatte er ja jedes Mal, wenn er diesen Diskurs selbst vortragen hörte, besonders in der unerschrockenen Interpretation, die der Colonel ihm stets verlieh, eine außergewöhnliche Abneigung verspürt und war bei jedem einzelnen Wort vor Ekel erschaudert, und zwar nicht, weil eine schamlose Lüge vorlag, sondern weil im Herzen dieser schamlosen Lüge die Wahrheit selbst sich in ihrer reinsten Form zeigte, vollkommen unbestreitbar, eine Wahrheit, auf die er keinerlei Einfluss hatte und die sie alle zusammen einschloss, sie alle, Moreau, Febvay, den Colonel, ihn selbst, alle, in ihre eisige Umarmung.
    – Eine Dummheit, ich weiß, mon Capitaine, wiederholt sich Moreau. Aber jeder macht Dummheiten. Wir sind Menschen.
    Capitaine

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