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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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1944 schützen wird, der über den Hof fegt und langsam die Leichname an den jeweiligen Enden der Seile sich im Kreise drehen lässt. Der Gott, zu dem man zu beten beharrt, ist nur mehr ein tyrannisches und barbarisches Idol, von dem man sich nichts anderes mehr erhofft, als seinem unendlichen und grundlosen Zorn noch eine Weile zu entkommen. Die letzten Kräfte der Intelligenz haben sich ausnahmslos verdichtet zu einer Art intuitiven und servilen Schläue und von den ehemaligen Empfindungen bleiben nur unvermittelt auftauchende, irrationale Gefühlsregungen zurück, wie die zufällige Zuneigung, mit der Raymond Blumers, ein Ehemaliger des spanischen Bürgerkriegs, André Degorce plötzlich umschwärmte, der alte Blumers, der sich über seine Bekreuzigungen und Gebete stets lustig machte und ihn gern den kleinen Pfarrer nannte, der aber seinen ganzen geheimnisvollen Einfluss geltend gemacht hat, um Andrés Name auf der Liste des Kommandos für Arbeitsstatistik auftauchen zu lassen und ihn damit wie von magischer Hand der Zwangsarbeiten, die ihn bald schon getötet hätten, enthoben hat, um ihn buchhalterische Arbeiten in einem Büro erledigen zu lassen, André warf allabendlich beim Essen seiner Suppe dann Blumers immer wieder Blicke von animalischer Dankbarkeit zu, hat aber, als er dessen Strangulation im Februar 1945 beiwohnte, erneut in einer grotesken Habachtstellung auf dem großen Appellplatz erstarrt, nicht eine Träne vergossen, ebenso wenig, wie er je geweint hätte, als er an seine Eltern dachte oder an Lézieux oder daran, wie das Leben hätte aussehen können, denn bei dem, was aus dem Leben inzwischen geworden war, gab es für die Lauterkeit des Kummers keinen Platz mehr. Und dies gehört dazu zum Verbrechen – aber das Leben schützt und verlängert sich eben, indem es sich blind stellt und taub. Capitaine Degorce hatte so lange gebraucht, um zu verstehen, dass er nicht schuld war an diesem Verbrechen, und als die Amerikaner die Bewohner von Weimar dazu zwangen, das Lager aufzusuchen, da war er derjenige, der aus lauter Schamgefühl heraus vor ihnen die Augen niederschlug. Und hier ist jetzt erneut etwas Ähnliches geschehen, ja, sogar hier, auf der anderen Seite des dunklen Spiegels, für ihn und alle Männer, über die er Befehlsgewalt hat, etwas, das er nicht verzeihen können wird, selbst wenn er vor niemandem mehr die Augen niederschlägt.
    (Mein Gott, was ist nur aus mir geworden?)
    – Ich bin in meinem Büro.
    – Gut, mon Capitaine.
    Febvay lächelt ihm zu und er lächelt zurück.
    (Dies die Grenzen der Welt. Befragungsräume. Zellen und endlose Flure. Dieser furchtbare gelbe Himmel. Verlorene Körper. Verlorene Seelen. Die unzumutbare Nacktheit.)
    Das ist alles, was sie miteinander teilen können: Prognosen und Einschätzungen über die Widerstände von Körpern, als bestünde ihre Aufgabe nicht darin, Informationen zu sammeln, sondern darin, Beweisanordnungen zu organisieren, die dazu bestimmt sind, einen verborgenen, wesentlichen und primitiven Parameter ans Licht zu bringen, die einzige Quelle allen Wertes. Sie sind Wissenschaftler, Spezialisten einer subtilen Sezierung, in Bann gezogene Propheten, und das Mysterium, das ihnen heute als Belohnung für ihre Beflissenheit und Ergebenheit anzuschauen vorgelegt wurde, hat ihnen die Augen verbrannt. Die Nacht ist hereingebrochen über alles, was sie je geliebt haben, und sie haben es vergessen, vielleicht für immer. Capitaine Degorce sieht erneut die gesichtslose Silhouette bei der Gestapo in Besançon über sich gebeugt, er hört den schnaubenden Atem, kreuzt einen trüben, auf seinen übel zugerichteten Körper gerichteten Blick, die Mundwinkel zittern vor Gier und Ekel, und er weiß, dass er diesen Mann auf so innige Weise versteht, als wäre er Teil seiner selbst geworden. Er versteht Moreau, er versteht Febvay und den geringsten seiner Soldaten, ohne dass er mit ihnen auch nur ein Wort wechseln müsste. Sie alle haben die gleiche Verwandlung erduldet und sind Brüder geworden. Die Umstände ihrer vergangenen Leben zählen nicht, ebenso wenig wie der Schwindel, den die Offenbarung dieser Verwandtschaft in ihm erzeugt. Es gibt keine andere Familie mehr und tagtäglich sind es Fremde, die ihm schreiben. Die Bande, die ihn mit seinen Eltern vereinten, mit Jeanne-Marie und den Kindern, sind verschwunden und haben, gleich einem absurden Abdruck, nichts anderes an ihrer Stelle hinterlassen als eine gewisse Anzahl an Gewohnheiten und mechanischen

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