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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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erneut in seiner Brust auf.
    Tahar lächelt traurig.
    – Das ist nicht wichtig.
    Capitaine Degorce sitzt ihm mit einem Abstand von weniger als zwei Metern gegenüber, hat aber das Gefühl, dass eine unendliche Entfernung sie voneinander trennt und dass es immer schon so war. Das Herz der Menschen ist ein unglaubliches Mysterium. Das Herz dieses Menschen hier ist ein noch größeres. Capitaine Degorce würde Tahar gern aus dessen Einsamkeit herausreißen und zu sich zurückbringen können, und sei es nur für einen Augenblick, und er schaut ihn mit beinahe flehendem Wohlwollen an.
    (Eines Tages wird dieser Krieg vorüber sein und Sie und ich, wir werden uns erneut gegenübersitzen, bei strahlendem Sonnenschein, und dann, dann werden wir reden können, wir werden uns alles sagen können, alles, wozu wir jetzt nicht die Zeit gefunden haben.)
    – Eines Tages wird dieser Krieg vorüber sein, glauben Sie mir, sagt Capitaine Degorce.
    – Ich weiß, Capitaine, sagt Tahar.
    Er hat die Augen nicht wieder geöffnet. Seine Gesichtszüge sind langsam in sich zusammengesackt und er wirkt sehr alt. Schatten verdunkeln sein Gesicht dort, wo sich tiefe Falten eingraben werden, die man bereits lauern sieht an den Augenwinkeln, auf der Stirn, den Wangen entlang. Und nach und nach verblassen die Schatten, der bittere Zug um den Mund verwandelt sich langsam wieder zurück in ein Lächeln und die Maske des Alters wird rissig und zerstiebt lautlos. Die Augen öffnen sich, der Schimmer aber, der sie erhellt, bleibt unentzifferbar. Jeder einzelne Satz, den Capitaine Degorce gern aussprechen würde, erscheint ihm eitel und unangebracht.
    – Ich werde Sie holen kommen, sagt er schlicht, bevor er die Zelle verlässt.
    Er geht hinaus, um auf der Straße eine Zigarette zu rauchen. Der Wind hat sich gelegt und eine riesige Sonne geht über der Stadt unter. Sandkörner kleben an den Fenstern und Gittern. Die Luft ist gesättigt von Sand und Feuchtigkeit. Capitaine Degorce fragt sich, wie man diese Stadt je lieben könnte. Falls sie geheimen Charme besitzen sollte, ist es ihm definitiv nicht möglich, diesen aufzuspüren. Er wird sie ohne Bedauern verlassen. Im Befragungsraum sitzt Febvay auf dem Tisch, er isst einen großen Apfel, den er mit einem Armeemesser in Stücke schneidet und dabei immer wieder wütende Blicke auf Robert Clément wirft, der an einen Heizkörper gefesselt ist. Er spuckt die Kerne in dessen Richtung.
    – Noch immer nichts, konstatiert Capitaine Degorce.
    – Absolut nichts, mon Capitaine.
    Der Capitaine kniet sich vor Clément auf den Boden.
    – Die Nächte hier, sie sind nicht sehr angenehm, wissen Sie, vertraut er ihm an. Und das Schlimmste, man gewöhnt sich einfach nicht daran. Ich habe das feststellen können. Jede einzelne Nacht ist schlimmer als die vorhergehende. Man liegt falsch, wenn man sagt, man gewöhne sich an alles. Die Weisheit des Volkes hat nicht viel Wert, nicht wahr?
    Clément bewahrt ein verbissenes Schweigen.
    – Wie auch immer, Sie werden es ja sehen. Aber es ist dumm. Und völlig unnütz, glauben Sie mir. Tun Sie sich das nicht an. Ich werde Ihnen sagen, was passieren wird. Morgen oder übermorgen wird jemand aus Ihrer Familie, Ihre Mutter vielleicht oder auch Ihre Braut, hier vorbeikommen und Neuigkeiten von Ihnen erfragen. Und wissen Sie, was ich ihr antworten werde? Nein? Ich werde ihr antworten, dass wir Sie heute Nachmittag freigelassen haben und dass ich sehr erstaunt darüber sei, dass sie noch immer nichts von Ihnen gehört habe. Ich werde sie meines ehrlichen Mitempfindens versichern und sie bitten, nicht zu vergessen, mich auf dem Laufenden zu halten. Ich werde beunruhigt wirken, äußerst beunruhigt. Ich weiß, dass meine Unruhe ganz besonders ansteckend ist. Und wenn sie gegangen sein wird, werde ich zu Ihnen kommen und Ihnen die ganze Szene detailgetreu berichten. Ich werde nichts auslassen, glauben Sie mir. Vielleicht werden Sie mir mit dieser schönen Gleichgültigkeit zuhören, aus Eigenliebe oder Dummheit. Und dann wird es eine weitere Nacht geben und Sie werden über all dies erneut nachdenken, es wird Ihnen gar nicht möglich sein, nicht darüber nachzudenken. Sie werden verstehen, dass Sie gar nicht mehr existieren. Sie werden an die Angst Ihrer Liebsten denken. Nächtens sind Gedanken etwas Furchtbares. Das habe ich ebenfalls festgestellt, ich bin ein guter Beobachter. Sie werden die Dinge schließlich in einem anderen Licht sehen. Sie werden mir erzählen, was ich hören

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