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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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möchte, ich bin mir dessen sicher.
    Der Capitaine sieht sich Clément einen Augenblick lang an und beugt sich dann an sein Ohr.
    – Und wenn ich falsch liege und mein Irrtum mich wirklich nerven sollte, was ich Ihnen zuliebe nicht hoffen will, dann werde ich vielleicht Folgendes tun: Ich werde Sie freisetzen. Ich werde Sie an Ihren Arbeitsplatz begleiten und werde mich sehr warmherzig von Ihnen verabschieden, das kann ich Ihnen versichern, ich werde Sie sogar in meine Arme schließen und bevor all dies so ablaufen wird, werden meine Leute herzensguten Personen gegenüber Loblieder von Ihnen singen, sie werden von Ihrer offenen Bereitschaft erzählen, der Armee ihres heiß geliebten Landes zu helfen, von dem Mut, mit dem Sie es akzeptiert haben, als Maulwurf aufzutreten, sehen Sie, und Ihre Freisetzung wird von einer sehr spürbaren Welle an Festnahmen begleitet sein. Dafür werde ich sorgen. Ich denke nicht, dass Ihnen die Zeit bleiben wird, die Koffer zu packen. Capitaine Degorce schlägt Clément zwei Mal freundschaftlich auf die Schulter.
    – Sie wissen, was Ihre Freunde von der FLN mit Verrätern anstellen? Ich habe Fotos dazu, falls es Sie interessiert.
    Clément wendet sich dem Capitaine zu und spuckt ihm ins Gesicht. Febvay springt auf.
    – Ruhig Blut, Febvay, hält Capitaine Degorce ihn zurück, während er sich das Gesicht abwischt. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Monsieur Clément bereits angefangen hat nachzudenken. Sperren Sie ihn für die Nacht weg. Ganz allein.
    (Mieser kleiner Scheißkerl.)
    *
    Die Seiten sind nicht mehr leer. Auf jede einzelne hat er das Datum geschrieben, Liebe Eltern, Meine liebe Frau, Meine geliebten Kinder und sogar Mein lieber Marcel. Und das war’s. Es ist elf Uhr und die Nacht ist hereingebrochen. Er hat sich gezwungen, ein wenig zu essen, bleibt sitzen, mit dem Stift in der Hand, und wendet seinen Kopf mit jedem neuen Motorengeräusch. Er nimmt den für Marcel bestimmten Brief und wirft ihn in den Papierkorb, mit dem Eindruck, einen Teil seines Problems effektiv gelöst zu haben. »Meine lieben Eltern, achtet auf Eure Gesundheit, vor allem Du, Papa. Hier läuft alles bestens. Euer Sohn, André.« Überflüssig, das Geschriebene zu prüfen. Das muss in einen Umschlag gesteckt werden, schnellstmöglich, und nicht mehr dran denken. Die Worte werden wiederkommen. »Meine liebe Frau, meine geliebten Kinder, ein Tag von besonders gewichtigen Aufgaben hält mich davon ab, Euch ausführlich zu schreiben, und lässt mir nur die Zeit, Euch mitzuteilen, dass alles gut ist, und Euch meiner tiefen Zuneigung zu versichern.« Zur Briefablage damit. Sein Geist ist intakt. Er ist fähig, komplexe Gedankengänge zu entwickeln und Entscheidungen zu fällen. Er kann die Größen eines Problems erkennen und formulieren, Informationen hierarchisieren. Er kann Pläne entwerfen, die kurz- und längerfristige Vermutungen verlangen. Sollte aber ein Brief an die Seinen geschrieben werden, dann bedarf es natürlich etwas anderes, etwas, dass er offensichtlich verloren hat. Der Seele, mag sein, der Seele, die das Wort lebendig werden lässt. Er hat seine Seele auf dem Weg zurückgelassen, irgendwo hinter sich, und er weiß nicht wo. Morgen muss diese Aufgabe erneut in Angriff genommen werden – schreiben, zumindest etwas schreiben, und er bedauert es, von keinem seiner Briefe eine Abschrift zurückbehalten zu haben, um sie, wie sie waren, erneut verschicken zu können. Dies jedoch ist im Grunde genommen genau das, was er seit Wochen tut. Eine Abschrift wäre vollkommen nutzlos. Er schaut auf das Organigramm. Sobald er es vervollständigt haben wird, wird er auf seinem Weg zurückkehren und seine Seele dort, wo er sie zurückließ, wiederfinden können. Bis dahin bleibt es wüst in ihm.
    (Und meine Gedanken gleichen Graffiti auf den Wänden eines unbewohnten Zimmers.)
    Alles ist vollkommen still. Es ist eine schaurige nächtliche Stunde. Der Tag hat sich abgewandt und wird für geraume Zeit nicht wiederkehren. Es ist die Stunde, in welcher das Herz Jesu im Schatten des Garten Gethsemane sich mit Angst füllt, die Apostel sind in den Schlaf geflüchtet, haben ihn zurückgelassen in seiner schauerlichen Einsamkeit, und sein Herz ist ein schwaches Menschenherz, das angesichts des bevorstehenden Todes schaudert. Er fällt mit dem Gesicht zu Boden, die Blätter der Olivenbäume zittern im Wind und nichts wird den bitteren Kelch entfernen können. Es ist die Stunde, in welcher die Soldaten des

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