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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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Sanhedrins sich bewaffnen und der finstre Statthalter von Judäa die Flure seines stillen Palastes durchschreitet und ununterbrochen die Stunde des Schlafes nach vorn verschiebt. Für ihn ist es ebenso, für ihn ist diese Nacht ebenfalls eine Nacht der Angst und er weiß nicht warum. Er besinnt sich der Schrecken der Kindheit und ist untröstlich darüber, sie könnten zurückgekehrt sein, den strengen und ernsten Mann zu verstören, zu dem er geworden war. Er spürt den Geschmack von Blut im Mund und seine Seele ist zu Tode betrübt. Capitaine Degorce schaltet das Licht in seinem Büro aus und geht seinerseits die nicht enden wollenden Flure entlang, er geht langsam, ohne jemanden anzutreffen, und er hat den Eindruck, der Gefangene eines unendlichen Labyrinths zu sein. Er trifft schließlich auf Moreau.
    – Es ist alles vorbereitet, mon Capitaine, Ihren Anordnungen gemäß.
    – Ich werde mich einen Augenblick hinlegen. Wecken Sie mich, wenn Andreani kommt.
    In seinem Zimmer findet er seine Bibel wieder und riecht mit tiefen Atemzügen an den aufgeschlagenen Seiten. Der köstliche Geruch von Leim und Papier beruhigt ihn. Er liest: »Zu denen auf seiner linken Seite aber wird er sagen: Geht mir aus den Augen, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das für den Teufel und seine Helfer bestimmt ist! Denn ich war hungrig, aber ihr habt mir nichts zu essen gegeben. Ich war durstig, aber ihr habt mir nichts zu trinken gegeben. Ich war ein Fremder unter euch, aber ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich war nackt, aber ihr wolltet mir nichts zum Anziehen geben. Ich war krank und im Gefängnis, aber ihr habt euch nicht um mich gekümmert.« Capitaine Degorce legt sich angezogen auf sein Bett, die Augen geöffnet. Es ist dieser Text, der ein unendliches Labyrinth darstellt. Er steht wieder auf. Die Flure, erneut, dann die Zellentür, schließlich Tahar, der sich aufrichtet und ihn fragt:
    – Ist die Stunde gekommen?
    – Nein, antwortet Capitaine Degorce. Ich bin hier, die Stunde mit Ihnen gemeinsam zu erwarten, wenn es Sie nicht stört. Ich bitte Sie: lassen Sie mich bei Ihnen bleiben, sagt er dann noch – und Tahar lächelt ihn an.

Ich erinnere mich Ihrer, mon Capitaine, und ich sehe Sie noch, wie Sie sich dem Gericht genähert haben, ohne auch nur einen Blick Richtung Anklagebank zu werfen, von der aus Paul Mattei und ich Sie vorbeigehen sahen. Sie trugen sämtliche Ihrer Orden und auch die ganz neuen Litzen eines Lieutenant-Colonel. Vielleicht hat man aus Ihnen inzwischen einen General gemacht, seien Sie mir jedoch nicht gram, mon Capitaine, wenn ich mich an den Dienstgrad ihrer Jugend halte, den einzigen, den Sie Ihrem Mut und nicht Ihrem mustergültigen Untertanengeist zu verdanken haben, einem Untertanengeist von solch immensem Ausmaße, dass ich ihn vielleicht sogar bis heute nicht vollkommen überblicke. Denn ich bin unbelehrbar, mon Capitaine, und die Liebe, die ich Ihnen entgegenbrachte, hat eine so tiefe Spur in meinem Herzen hinterlassen, dass ich nie der absurden Hoffnung habe abschwören können, Sie eines Tages wiederzufinden, eine permanent enttäuschte Hoffnung, natürlich, wie ja damals auch, im Frühling 1961, als ich bis zum Schluss auf Ihre Unterstützung setzte. Sie waren damals noch Kommandant, ich hatte Sie seit den Kämpfen im Wilaya V nicht mehr gesehen und wenn ich auch schon wusste, dass Ihnen der Sieg nichts bedeutete und Sie bereit waren, sich diesen zugunsten der Freunde von Tahar, die ihn so wenig verdienten, nehmen zu lassen, so dachte ich ja doch, dass Sie es nicht akzeptieren würden, all dies Blut vergeblich vergossen zu haben, all dies Blut, dem allein der Sieg hatte Sinn verleihen können. Ja, mon Capitaine, ich bin unbelehrbar und stets habe ich mich geweigert, einzusehen, dass Sie im Grunde genommen nichts anderes waren als ein Lakai, ein treuer und seinen Herren gegenüber für den Tand, mit dem diese ihre Niedertracht vergelten, völlig mit Dankbarkeit erfüllter Diener, und Sie haben sich nicht gerührt, Sie akzeptierten die Schande, die man uns aufbürdete, ohne zu murren, wie die anderen Lakaien auch, einst unsere Waffenbrüder, von denen wir jedoch erfuhren, dass sie abtrünnig geworden waren, einer nach dem anderen, all ihrer Gelöbnisse zum Trotz, und Paul Mattei hatte zu mir gesagt, Horace, das darf auf diese Weise nicht enden. Nein, mon Capitaine, nichts durfte auf diese Weise enden, in einem allerletzten grotesken Mummenschanz, nicht dieser Krieg, nicht unsere Revolte, denn wir

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