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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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erfüllen versäumt hat, wird nicht mehr erfüllt werden können, jetzt, und er verspürt einen furchtbaren Kummer darüber. In der Ferne, in der umzingelten Casbah, ruft der Muezzin zum großen Freitagsgebet, da sich die weiten Paradiese der Seele der Märtyrer öffnen, und da wäre also das ganze Glück, von dem Tahar gesprochen hat, der genau wusste, dass er zu sterben hatte, Capitaine Degorce begreift es erst in diesem Augenblick und es stimmt ihn traurig, zu denken, dass Tahar, dies wissend, sich nicht noch ein letztes Mal, um ihn anzulächeln, zu ihm umgedreht hatte. Warum aber hätte er den Mann anlächeln sollen, der ihn an seine Henker auslieferte?
    (Ich wusste es nicht, oh Herr, ich wusste es nicht.)
    – Fahren wir zurück nach El-Biar.
    Der Wagen fährt über die sonnendurchfluteten Straßen und er sieht sich noch einmal in der vorhergehenden Nacht, Tahar direkt neben ihm sitzend, aber er verharrt nicht ruhig dieses Mal, er erhebt sich wortlos, er löst seine Fesseln und nimmt ihn am Arm, er führt ihn in das Labyrinth der stillen Flure bis hin zur Tür, die hinausführt in die Nacht, die von einer zarten Mondsichel erhellt wird, und er stößt Tahar sachte in die Mondhelle hinaus, bevor er die Tür wieder verschließt und sich des wiedergefundenen Friedens erfreut. Er hätte das tun können, vor wenigen Stunden erst, da hätte er dies noch tun können; so dürfte auch Pilatus, der Statthalter von Judäa, geträumt haben, als das Gewitter der Kreuzigung bereits den Himmel über Jerusalem in Stücke zerriss.
    (Und ich selbst, ich ersehne die Lüge und finde Gefallen daran. Nein, oh nein, ich hätte es nicht getan, selbst wenn ich es gewusst hätte. Ich hätte es nicht getan. Ich habe die Macht, die Macht erdrückt mich, ich kann nichts dafür. Ich habe kein Recht, Rechenschaft zu verlangen. Ich habe nicht einmal das Recht auf Reue.)
    In seinem Büro betrachtet er Tahars Foto auf dem Organigramm, er würde gern Worte der Entschuldigung murmeln, deren Obszönität ihn anekeln, und seine Lippen bleiben verschlossen. Es ist zu spät. Alles ist gesagt. Er nimmt seine Post. Er hat nur einen einzigen Brief an diesem Morgen, von Jeanne-Marie, und er weiß, dass es ihm unmöglich sein wird, ihn zu öffnen. Er zerreißt ihn und wirft die Stücke in den Mülleimer. Kein einziges zärtlich gemeintes Wort wäre erträglich. Golden glühende Wolken ziehen am Himmel vorbei und er verfolgt sie vom Fenster aus mit den Augen. Er hat das Gefühl, dass er soeben all die glücklichen Erinnerungen seines Leben zerrissen hat, als wäre er zu einem Mann geworden, dem von nun an selbst die glücklichen Erinnerungen verboten sind, und er sackt unter dem Gewicht einer grauenerregenden Nostalgie zusammen. Die Felsbuchten von Piana spannen sich im Sonnenuntergang vor ihm auf und Claudie spielt mit Jacques auf der Hotelterrasse, aber ein gelblicher und krankhafter Farbton bleicht den Himmel sogar bis in sein Gedächtnis hinein aus und er wird von nun an seine kristallklare Helligkeit nicht mehr wiedererlangen.
    (Nebel bin ich, süßliche Fäulnis, die sich überall einschmeichelt. Ich bin es, der die Farben der Schöpfung verdirbt. Ich träufle der Welt mein Gift ein und die Schönheit wendet sich ab von mir.)
    Er liebte die Schönheit so sehr, mit einer so inbrünstigen Liebe – die schwerblütige Schönheit ritueller Worte, die strahlende Schönheit der Mathematik, die seine Studentenjahre erhellte. Nach zwei Wochen Unterricht hatte Charles Lézieux ihn gebeten, ein paar Schritte mit ihm gemeinsam zu machen, nach der Oberschule, und er hatte zu ihm beim Spaziergang entlang der steilen Ufer des Doubs mit einer beinahe finsteren Miene wegen eines solch gewichtigen Geständnisses gesagt, dass er außergewöhnlich begabt wäre. Und er war es. Der Erfolg kostete ihn keinerlei Anstrengung, als hätte er einen besonderen Sinn ausgebildet, eine untrügliche geometrische Intuition, von der die Mehrheit seiner Mitschüler nicht betroffen war und die es ihm erlaubte, unmittelbar vor sich in Erscheinung treten zu sehen, was die anderen nur am Ende mühseliger Überlegungen herausgefunden haben. Die Beweise dienten ihm zu nichts anderem als der Bestätigung dessen, was er bereits geahnt hatte, und er achtete darauf, dass sie stets von besonderer Eleganz waren, rein, konzise, hell strahlend, denn er wusste, dass Wahrheit und Schönheit gemeinsam entdeckt werden müssen und dass die eine ohne die andere wertlos ist. Die Mathematik gewährte Zugang

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