Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
Vom Netzwerk:
sagen sollen, dass er den Wunsch geäußert hatte, Ihnen etwas auszurichten, von dem weder Sie noch ich je etwas in Erfahrung bringen werden, aber ich habe mich nicht dazu entschließen können, mon Capitaine, Sie hatten mich wie einen Hund behandelt und ich wollte Ihr Leid nicht erleichtern, oder aber ich wollte Sie vielleicht nicht noch mehr leiden lassen. Ich hätte dies alles weiterhin in den Tiefen eines Kellers in Saint-Eugène verblassen lassen können, und zwar für immer, aber meine Loyalität ist unbelehrbar und bei aller Wahrheit, mon Capitaine, nichts ist verblasst, ich erinnere mich an alles, ich erinnere mich sehr genau und ich habe alles mit mir mitgeschleppt, die Lebenden wie die Toten, und deshalb musste ich auch dorthin zurückkehren, der unfruchtbare Landstrich meiner Kindheit wurde mir immer fremder, Tag um Tag, und ich habe den Taxifahrer nicht angelogen, als ich zu ihm sagte, dass sein Land auch das meine sei, und zwar gerade, weil es gar kein Land mehr ist und es Länder für Menschen wie mich oder Sie, mon Capitaine, nicht gibt. Am Vorabend meiner Abreise habe ich den Taxifahrer eingeladen, mit mir im Restaurant Saint-George zu Abend zu essen, in das er natürlich noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Wir tranken einen Magenbitter unterm Jasmin und er beobachtete die Kellner unruhig, als hätte er jeden Augenblick damit gerechnet, rausgeschmissen zu werden. Am nächsten Morgen, bevor er mich dann zum Flughafen brachte, der den Namen von einem unserer Feinde trägt, hat er mich eingeladen, Tee bei ihm zu Hause zu trinken, in einem Sozialbau in Bab-elOued. Sein Wohnzimmer war überfüllt mit Plastikkanistern voller Wasser, auf denen seine Tochter den Tee servierte und Teller voller Gebäck, das aus einer Konditorei stammte, in der er ein Vermögen dafür bezahlt haben musste. Wir haben nicht viel gesagt. Die Frau des Taxifahrers wiegte ein kleines Baby, das weinte. Seine Tochter hat sich mir gegenüber auf den Boden gesetzt und mich lächelnd angesehen, mit demselben ernsthaften und schweren Blick, dem ich so häufig auf diesem Foto begegnet bin, das vor so langer Zeit geschossen worden war an einem Sommermorgen in der Kabylei. Ich habe sie nicht nach ihrem Vornamen gefragt. Als ich mich aufmachte, erhob sie sich, um mich zum Abschied zu küssen. Sie roch nach Eau de Cologne. Und wir sind Richtung Flughafen, mon Capitaine. Ich wusste, dass ich nie mehr wiederkehren würde. Ich habe die Hand des Taxifahrers geschüttelt und habe die Deponie von El-Harrach hinter mir gelassen, die Küstenstraße, Saint-Eugène, die eingestürzten Häuser der Casbah, die funkelnden Augen der Wölfe in der Finsternis und all die Kinder, die lächeln, ohne zu wissen warum, und sehr weit unten im Süden, auf der langen Wüstenstraße unserer grausamen Jugend den Schatten einer namenlosen Braut, die die Nacht ihrer Nächte erwartet, zwischen Taghit und Bechar.

29. März 1957: DRITTER TAG
    Johannes, II, 24–25

Die Vollkommenheit der Gesten ist eine unzumutbare Beleidigung. Der linke Fuß nach hinten gesetzt, aufgestützt auf die Ferse, ermöglicht es dem Körper, sich in einer einzigen flüssigen Bewegung zu drehen. Der Rücken ist tadellos grade, die Schulterblätter hervorspringend wie Klingen, der Nacken unterhalb der Linie der roten Baskenmütze ausrasiert, und Capitaine Degorce verspürt den Wunsch, das Magazin seiner Maschinenpistole in diesen verhassten Nacken zu entladen. Aber es ist zu spät und er bleibt hinter seinem Schreibtisch sitzen, zitternd vor Scham und Verzweiflung. In der vorhergehenden Nacht war noch Zeit gewesen, aber er war ja so naiv in der vorhergehenden Nacht. Er ging langsam an Tahars Seite an den Soldaten vorbei, die entsprechend dem Befehl von Adjudant-Chef Moreau gekommen waren, um die Waffen zu präsentieren, und das köstliche Gefühl der erfüllten Pflicht breitete sich so angenehm in ihm aus, dass er nicht einmal reagierte, als Lieutenant Andreani sich erlaubte, traurig mit dem Kopf zu nicken und zu murmeln »Oh! André, mein Gott ... André ...«, es schien ihm, dass nichts von dem, was dieser Mann auch immer denken mochte, ihn erreichen konnte, aber es wäre in genau diesem Moment nötig gewesen, dass er ihm aus dessen Halfter die Pistole gezogen hätte und sie alle wie tollwütige Hunde abgeknallt hätte, Horace Andreani, seinen Seminaristen, diese kleine Ratte, und Belkacem. Aber er hat nichts dergleichen getan, er hatte nicht einmal eine Sekunde lang darüber nachgedacht,

Weitere Kostenlose Bücher