Und morgen bist Du tot
sie ist erst fünfzehn, um Gottes willen!«
»Und welche Alternative gibt es?«
»Das ist es ja gerade, keine.«
»Dann ist die Entscheidung doch ganz einfach. Soll sie leben oder sterben?«
»Natürlich will ich, dass sie lebt.«
»Dann musst du es akzeptieren und stark und zuversichtlich sein. Um ihretwillen. Wenn sie etwas überhaupt nicht gebrauchen kann, dann eine Mutter, die zusammenbricht.«
Diese Worte hatte sie noch im Ohr, als sie das Gespräch beendete und Sue versprach, später auf einen Kaffee vorbeizukommen. Vorausgesetzt, sie konnte Caitlin allein lassen.
Du musst stark und zuversichtlich sein. Um ihretwillen.
Das war leicht gesagt.
Sie wählte Mals Handynummer, da sie nicht wusste, wo er sich gerade befand. Sein Schiff lag nicht immer an der gleichen Stelle, und er hatte kürzlich von Wales aus im Bristol Channel gearbeitet. Ihre Beziehung war freundschaftlich, wenn auch ein wenig steif und förmlich.
Er meldete sich beim dritten Klingeln, die Verbindung war schlecht.
»Hi, wo bist du gerade?«
»Vor der Küste bei Shoreham. Etwa sechzehn Kilometer außerhalb der Hafenmündung, wir fahren gerade zum Abbaugebiet. In ein paar Minuten bin ich außer Reichweite. Was gibt’s?«
»Ich muss mit dir sprechen. Caitlin geht es schlechter, sie ist sehr krank. Todkrank.«
»Scheiße«, sagte er, wobei seine Stimme leiser und das Knistern in der Leitung lauter wurde. »Erzähl.«
Sie fasste die Diagnose zusammen, da sie wusste, wie schnell das Signal verschwinden konnte. Sie konnte seine Antwort kaum verstehen. In sieben Stunden sei das Schiff zurück, dann wolle er sich wieder melden.
Danach rief sie ihre Mutter an, die zum Kaffeetrinken im Bridgeclub war. Sie war eine starke Frau und schien in den vier Jahren, seit Lynns Vater gestorben war, noch stärker geworden zu sein. Sie hatte ihrer Tochter irgendwann gestanden, dass sie schon seit Jahren nicht mehr gut miteinander ausgekommen waren. Sie war eine praktische Frau, die sich von nichts aus der Ruhe bringen ließ.
»Du solltest eine zweite Meinung einholen«, sagte sie sofort. »Sag Dr. Hunter, du möchtest eine zweite Meinung hören.«
»Ich glaube, das hat wenig Sinn. Dr. Hunter und der Facharzt sind einer Meinung. Es passiert genau das, was wir schon lange befürchtet haben.«
»Trotzdem musst du eine zweite Meinung einholen. Ärzte können sich irren. Sie sind nicht unfehlbar.«
Zögernd versprach Lynn, sich darum zu kümmern. Auf der Heimfahrt zermarterte sie sich das Hirn. Wie viele zweite Meinungen sollte sie denn noch einholen? Sie hatte in den vergangenen Jahren alles versucht, hatte das Internet durchforstet und in allen großen Universitätskliniken der USA nachgefragt. In deutschen Krankenhäusern. In der Schweiz. Sie hatte sämtliche alternativen Behandlungsmethoden und Heiler jeglicher Art ausprobiert. Glaubensheilung, Heilung durch Vibrationen, Fernheilung, Handauflegen, Priester, Pillen aus kolloidalem Silber, Homöopathie, Kräuterheilkunde, Akupunktur.
Sicher, ihre Mutter hatte nicht unrecht. Vielleicht war die Diagnose tatsächlich falsch. Vielleicht wusste ein anderer Spezialist etwas, was Dr. Granger nicht wusste, und konnte eine weniger drastische Behandlung empfehlen. Oder es gab ein neues Medikament. Doch wie lange konnte sie suchen, wenn sich der Zustand ihrer Tochter rapide verschlechterte? Wann musste sie akzeptieren, dass die Schulmedizin in diesem Fall vielleicht den einzigen Ausweg bot?
Als sie in dem kleinen Kreisverkehr von der London Road in die Carden Avenue bog, ertönte ein metallisches Scheppern. Sie schaltete in einen anderen Gang und hörte das bekannte Rumpeln am Auspuff, an dem eine Halterung gebrochen war. Caitlin sagte immer, es sei der Sensenmann, der anklopfe, weil das Auto im Sterben liege.
Ihre Tochter hatte einen makabren Sinn für Humor.
Sie fuhr den Hügel hinauf nach Patcham. Tränen traten ihr in die Augen angesichts der Unermesslichkeit der Situation. Oh, Scheiße. Sie schüttelte fassungslos den Kopf. Nichts, aber auch gar nichts in ihrem Leben hatte sie darauf vorbereitet. Wie sollte sie ihrer Tochter beibringen, dass sie eine neue Leber brauchte? Eine Leber, die man einer Leiche entnommen hatte?
Sie bog in ihre Straße ein und fuhr in die Einfahrt, zog die Handbremse an und schaltete den Motor aus. Wie üblich hustete er, dass der ganze Wagen erbebte und der Auspuff auf den Boden schlug, bevor er verstummte.
Sie bewohnte eine Doppelhaushälfte in einer ruhigen, steil
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