Und morgen bist Du tot
außer dem fröhlichen Duncan, dem Sicherheitsbeamten am Empfang, im Gebäude war. Hier oben fühlte Grace sich wie auf einer einsamen Insel. Nur noch wenige Mitglieder seines Teams waren da, darunter Juliet Jones, die HOLMES-Analystin.
Sie war immer noch damit beschäftigt, alle aufgeklärten und nicht aufgeklärten Verbrechen, die in Großbritannien begangen worden waren und etwas mit dem vorliegenden Fall tun haben konnten, zu überprüfen. Es war eine aufwändige, aber wesentliche Aufgabe, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Angeln hatte. Man gab endlose Schlüsselbegriffe und -sätze ein, suchte nach Ähnlichkeiten zwischen Opfern in verschiedenen Teilen des Landes oder nach Anzeichen von Organdiebstahl. Bis heute Abend hatte ihre Suche, die seit Samstag lief, noch nichts ergeben.
In den vergangenen neun Jahren hatte Grace viele einsame Stunden gehabt und diese genutzt, um die Geschichte der Kriminalistik und Forensik zu studieren. Vor allem bewunderte er einen französischen Arzt namens Dr. Edmond Locard, der 1877 geboren war und als Sherlock Holmes Frankreichs bezeichnet wurde. Er war es gewesen, der das bedeutendste Prinzip der Forensik aufgestellt hatte: Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur. Es war als Locard’sche Regel bekanntgeworden.
Was konnte er nur übersehen haben, welche Spuren an den drei Leichen waren ihm entgangen? Wo waren die chirurgischen Instrumente, die mit den Körpern in Berührung gekommen waren? Natürlich hatte man sie längst sterilisiert. Vielleicht würde es mikroskopisch kleine Spuren an ihnen geben, die eine Identifizierung ermöglichten. Vermutlich hatte derjenige, der die Teenager operiert hatte, ordnungsgemäße chirurgische Kleidung getragen, sofern es sich nicht um einen einsamen Irren handelte. Daran waren gewiss Spuren zurückgeblieben, doch sie mussten die Kleidung erst einmal finden. Bislang hatten sie keinen Anhaltspunkt, und es war vollkommen ausgeschlossen, die Mülleimer und Wäschereien sämtlicher Krankenhäuser in Südengland zu durchsuchen.
Falls die Spurensicherung mit ihrer neuen Technologie brauchbare Abdrücke von dem Außenbordmotor liefern konnte, würde ihnen das vielleicht auch mit den Plastikplanen gelingen, in die man die Leichen gewickelt hatte.
Er schrieb es auf und las dann die drei getippten Seiten mit der Überschrift Ermittlungsansätze, die auch sein Team erhalten hatte. Er musste sie aktualisieren und einige wichtige Punkte hinzufügen. Außerdem sehnte er sich zutiefst danach, Cleo zu sehen. Das, was er zu erledigen hatte, konnte er ebenso gut bei ihr zu Hause machen. Dafür musste er nicht allein in seinem zugigen Büro sitzen.
*
Es wurde kälter, und der Wind steigerte sich zu Sturmstärke, als er seinen Wagen vor einem Antiquitätengeschäft im Parkverbot abstellte. Im prasselnden Regen eilte er über die Straße. Raue, unmusikalische Stimmen sangen irgendwo »God rest ye, merry gentlemen«. Waren das verfrühte Weihnachtssänger oder Betrunkene bei einer Party im Büro?
Kaum zu glauben, dass Weihnachten schon bevorstand. Er wusste nicht, was er Cleo schenken sollte. Ein Verlobungsring wäre ja kein Weihnachtsgeschenk. Nein, er wollte etwas Besonderes für sie haben.
Es war schon lange her, dass er Geschenke für eine Frau, die er liebte, gekauft hatte. Eine Handtasche? Ein anderes Schmuckstück außer dem Ring? Er würde seine Schwester um Rat bitten. Sie war ein praktischer Mensch und hätte sicher eine Idee. Oder auch Lizzie Mantle.
Von der Frage der Geschenke einmal abgesehen, musste er sich auch entscheiden, wo er Weihnachten verbringen wollte. Seit Sandys Verschwinden hatte er immer bei seiner Schwester gefeiert, doch Cleo hatte vorgeschlagen, ihre Familie in Surrey zu besuchen. Natürlich wollte er über die Feiertage mit Cleo zusammen sein. Seine Schwester würde sich sicher freuen, wenn sie von der Verlobung hörte. Immerhin hatte sie ihn seit Jahren gedrängt, einen neuen Anfang zu wagen. Jetzt musste er nur noch alles organisieren. Sollte der Fall Neptun bis dahin nicht aufgeklärt sein, würde es ohnehin ein kurzes Weihnachtsfest für ihn.
Er schleppte die schwere Aktentasche über den gepflasterten Hof und suchte nach dem Schlüssel. Als er Cleos Wohnungstür öffnete, besserte sich seine Laune schlagartig. In dem offenen Wohnzimmer war es angenehm warm, und sie strahlte ihm lächelnd entgegen. Es roch verführerisch nach Knoblauch, Opernmusik hallte durchs Zimmer. Die Ouvertüre aus Carmen, dachte er und war froh, dass
Weitere Kostenlose Bücher