Und morgen bist Du tot
war Weihnachten, und die Leute würden zum Einkaufen in die Stadt strömen.
Sie trottete an einer geschlossenen Bank mit dunklen Fenstern vorbei und fragte sich, was die Leute in Banken machten. Die wichtigen Leute. Die reichen Leute. Dann ein Hotel: Der Portier schaute sie misstrauisch an, als wollte er die wichtigen Leute dort drinnen vor ihr beschützen. Als Nächstes kam ein Minisupermarkt, der ebenfalls geschlossen war. Hungrig schaute sie durch die Fenster auf die Konservendosen und Gläser mit Obst und Gemüse.
Sie hatte keinen Farbverdünner zum Inhalieren mehr, um das Hungergefühl zu vertreiben. Am frühen Abend hatte sie mit Romeo um die letzte Flasche gestritten und sie fallen gelassen. Die Flüssigkeit war in den Kanal gelaufen. Wütend war er mitsamt dem Hund und den Resten in der Dose davongestapft und hatte gesagt, er wolle nach Hause, ins Trockene. Simona aber war hungrig und hatte nicht in das unterirdische Loch zurückkehren wollen, bevor sie etwas zu essen gefunden hatte. Außerdem schrie das Baby schlimmer denn je.
Seit gestern hatte sie nichts als ein paar streichholzdünne Pommes frites gegessen, die sie in einem weggeworfenen Karton in der Nähe von McDonald’s gefunden hatte. Eine Zeitlang hatte sie vor einem teuren Restaurant gebettelt, aus dem verlockende Düfte von Knoblauch und gegrilltem Fleisch drangen, doch die trockenen, satt aussehenden Menschen, die herauskamen und in ihre Autos stiegen, hatten sie wie eine Unsichtbare behandelt.
Autos, Taxis und Lieferwagen fuhren zischend an ihr vorbei. Sie ging weiter in ihren durchnässten Turnschuhen, durchquerte eine Pfütze nach der anderen, doch es war ihr egal. Vor ihr befand sich der Bahnhof Gara de Nord, dort drinnen war es trocken. Vielleicht waren auch ein paar Freunde da, bei denen sie bleiben konnte, bis die Polizei sie um Mitternacht hinauswarf. Die hatten vielleicht etwas zu essen. Oder sie könnte im Laden im Bahnhof, der bestimmt noch geöffnet hatte, einen Schokoriegel stehlen.
Sie ging die Treppe hinauf und betrat den riesigen, dämmrig beleuchteten Hauptbahnhof von Bukarest. Auf dem Boden standen Pfützen, in denen sich die geisterhaft weißen Natriumdampflampen spiegelten, die sich paarweise bis zum Ende des Gebäudes erstreckten. Direkt über ihr befand sich eine große elektronische Anzeigetafel, auf der PLECARI ABFAHRT zu lesen war. Die Uhr zeigte 23.36 Uhr.
Dort waren die Zugverbindungen für den Abend und den kommenden Morgen aufgelistet. Manche Städte kannte sie vom Namen her, von den meisten hatte sie nie gehört. Manchmal redeten die Leute über andere Orte. Über Jobs, die man in anderen Ländern bekommen konnte, in denen man gut verdiente und sich ein hübsches Haus leisten konnte, in dem es immer warm war. Sie hörte das Rattern von Eisenbahnrädern. Vielleicht könnte sie einfach in einen Zug steigen und irgendwohin fahren. An einen Ort, der warm war, an dem es viel zu essen gab und keine schreienden Babys.
Rechts von ihr lag ein geschlossenes Café mit einem weißen Schild auf blauem Hintergrund. METROPOL. Davor auf dem Boden saß ein alter, bärtiger Mann mit Wollmütze, zerlumpter Kleidung und Gummistiefeln, der aus einer Schnapsflasche trank. Neben ihm lag ein schmutziger Schlafsack, und er hatte sein ganzes Hab und Gut in einer karierten Einkaufstasche dabei. Er nickte ihr zu, und sie nickte zurück. Wie die meisten Leute, die auf der Straße lebten, kannten sie einander nur vom Sehen, aber nicht mit Namen.
Sie ging weiter. Da standen zwei Polizisten in leuchtend gelben Jacken, junge, unfreundlich aussehende Typen, die gelangweilt rauchten. Sie warteten bis Mitternacht, bevor sie ihre Schlagstöcke herausholten und die Obdachlosen vertrieben.
Rechts von ihr befand sich der erleuchtete Süßwarenstand. Davor gab es einen Kaffeeautomaten von Nescafé. Die blaue Theke wurde von Kühlschränken eingerahmt, in denen Dosen mit Limonade und Bier standen. Ein eleganter Mann um die fünfzig schien den halben Laden leerzukaufen. Er trug eine braune Sportjacke, blaue Hosen und blankpolierte schwarze Schuhe. Er ließ sich Tüte um Tüte mit Keksen, Bonbons, Schokolade, Nüssen und Limodosen vollpacken.
Sie blieb einen Moment stehen und fragte sich, ob sie sich etwas schnappen sollte, doch der Mann hinter der Theke hatte sie bereits entdeckt und beobachtete sie mit Argusaugen. Selbst wenn er sie nicht erwischte, würden es die beiden Polizisten tun, und sie wollte keine Prügel riskieren. Obwohl es im
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