Und morgen bist Du tot
spätabendliche Atmosphäre müder, stiller Verzweiflung. Ein Stück weiter befand sich ein kleiner Supermarkt, in dem man Blumen und Süßigkeiten kaufen konnte. Eine ältere Frau mit blaugefärbtem Haar kam mit einem Schokoriegel in der Hand heraus.
Die Frau an der Information beendete ihr Telefonat und schaute sie freundlich an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Vielen Dank. Shirley Linsell erwartet uns.«
»Könnten Sie mir bitte Ihre Namen nennen?«
»Caitlin Beckett und ihre Mutter.«
»Ich gebe ihr Bescheid. Fahren Sie bitte mit dem Aufzug in den dritten Stock, sie kommt Ihnen entgegen.« Sie deutete den Korridor entlang.
Sie gingen an dem Laden vorbei und an Schildern, die auf das Rauchverbot in allen staatlichen Krankenhäusern hinwiesen. Erschöpft wirkende, orientierungslose Menschen kamen ihnen entgegen. Krankenhäuser hatten Lynn immer Angst gemacht. Sie erinnerte sich nur zu gut an die zahllosen Besuche im Southlands Hospital von Shoreham, als ihr Vater einen Schlaganfall erlitten hatte. Abgesehen von den Geburtsstationen hatten Krankenhäuser nichts Fröhliches. Man ging nur dorthin, wenn einem selbst oder Menschen, die man liebte, etwas Schlimmes zustieß.
Der Bereich vor den Stahltüren des Aufzugs, der am Ende des Korridors lag, war in ein schillerndes violettes Licht getaucht. Es sah mehr nach einer Disco oder einem Sciencefiction-Film aus.
Caitlin schaute von ihrem Handy hoch. »Cool«, sagte sie anerkennend. Und dann mit atemloser Erregung: »Weißt du was, Mum? Das ist ein Hinweis!«
»Ein Hinweis?«
Caitlin nickte. »Wie das Beamen bei Star Trek. « Sie grinste geheimnisvoll. »Das haben sie nur für uns gemacht.«
Lynn schaute ihre Tochter fragend an. »Na schön. Und wozu?«
»Das werden wir im dritten Stock herausfinden. Dort folgt der nächste Hinweis!«
Als der Aufzug langsam nach oben fuhr, freute sich Lynn über Caitlins gehobene Stimmung. Ihr Leben lang hatte sie unter starken Stimmungsschwankungen gelitten, und in letzter Zeit waren sie durch die Krankheit noch schlimmer geworden. Immerhin schien sie im Augenblick positiv an die Sache heranzugehen.
Im dritten Stock stiegen sie aus und wurden von einer lächelnden Frau Mitte dreißig begrüßt. Sie hatte ein hübsches Gesicht, langes braunes Haar und sah aus wie die klassische englische Rose. Zuerst bedachte sie Caitlin mit einem warmen Lächeln, dann Lynn und schaute wieder Caitlin an. Lynn bemerkte eine winzige geplatzte Ader in ihrem linken Auge.
»Hallo, ich bin Shirley, deine Transplantationskoordinatorin. Ich werde mich um dich kümmern, solange du hier bist.«
Caitlin funkelte sie an und sagte erst einmal gar nichts. Dann wandte sie sich wieder ihrem Handy und den endlosen SMS zu.
»Shirley Linsell?«, fragte Lynn.
»Ja, und Sie müssen Caitlins Mutter sein.«
Lynn lächelte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ich bringe dich auf dein Zimmer. Wir haben ein nettes Einzelzimmer für dich vorgesehen. Und für Sie einen Raum zum Übernachten, Mrs Beckett. Ich stehe Ihnen beiden bei allen Fragen zur Verfügung.«
Den Blick noch immer auf das Handy gerichtet, fragte Caitlin: »Werde ich sterben?«
»Natürlich nicht, Liebes!«, sagte Lynn.
»Ich habe nicht dich, sondern Shirley gefragt.«
Es entstand eine kurze, unbehagliche Stille. Dann sagte die Transplantationskoordinatorin: »Wie kommst du darauf, Caitlin?«
»Ich müsste ja wohl ganz schön blöd sein, wenn ich nicht darauf käme, oder?«
22
ROY GRACE FOLGTE den Rücklichtern des schwarzen Audi TT, der ein Stück vor ihm herfuhr und sich ständig weiter entfernte. Cleo schien nicht ganz zu begreifen, was das Wort Geschwindigkeitsbegrenzung bedeutete. Oder auch, wozu eine Ampel gut war, eine Ampel wie die, der sie sich gerade näherte.
Scheiße. Er hatte Angst um sie.
Die Ampel wurde gelb.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Ein Unfall, bei dem ein Auto eine rote Ampel überfuhr, konnte schreckliche Verletzungen verursachen. Und Cleo saß nicht allein im Auto. Sie erwartete ein Kind.
Die Ampel sprang auf Rot. Satte zwei Sekunden später schoss der Audi über die Kreuzung hinweg. Roy umklammerte aus lauter Angst das Lenkrad.
Dann hatte sie sicher die Kreuzung überquert und fuhr die Old Shoreham Road entlang.
Er bremste mit seinem Ford Focus Kombi vor der Ampel. Sein Herz hämmerte, er war schon versucht, sie anzurufen und ihr zu sagen, sie solle langsamer fahren. Aber es hatte keinen Zweck, so fuhr sie immer. Im Grunde fuhr sie sogar riskanter als Glenn
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