Und morgen bist Du tot
Jahren hatte sie ihre Schwester bei deren Scheidung unterstützt und dann im Kampf gegen den Brustkrebs, den sie schließlich verloren hatte.
Nach ihrer eigenen Scheidung hatte sie sich auf ihre Mutter verlassen können, doch diese wurde auch nicht jünger. Obwohl sie noch stark wirkte, würde Lynn auch sie irgendwann verlieren. Wenn sie Caitlin verlöre, wäre sie völlig allein auf der Welt, und dieser selbstsüchtige Gedanke erschreckte sie fast genauso wie der Schmerz, den Caitlins Leid in ihr auslöste.
Die vergangenen Tage im Royal South London Hospital waren die Hölle gewesen. Sie hatte für drei Nächte ein Zimmer in einem Ausbildungszentrum der Heilsarmee bekommen, das gegenüber dem Krankenhaus lag. Sie war allerdings kaum dort gewesen, da sie keine der zahlreichen Untersuchungen verpassen wollte, denen sich Caitlin unterziehen musste. Stattdessen hatte sie auf einem Stuhl neben ihrem Bett geschlafen.
Lynn zählte nicht mehr, wie viele Leute ihre Tochter schon untersucht und mit ihr gesprochen hatten. Sämtliche Mitglieder des Transplantationsteams, Sozialarbeiter, die Krankenschwestern, der behandelnde Arzt, der Hepatologe, der Chirurg, der Anästhesist. Sie machten Tomographien, Blutuntersuchungen, vermaßen ihren Körper, fertigten Abbildungen an, untersuchten das Herz und schienen wieder und wieder das Gleiche zu prüfen.
Irgendwann sagte Caitlin verzweifelt: »Ich bin nur ein Versuchskaninchen, oder?«
Dr. Abid Suddle, der einzige Mensch, dem Caitlin vertraute, hatte ihnen am Morgen versichert, dass man trotz ihrer seltenen Blutgruppe sehr bald ein passendes Spenderorgan finden werde. Möglicherweise schon innerhalb von wenigen Tagen.
Er machte Lynn immer Mut. Sie mochte seine Energie, seine Wärme und seine aufrichtige Sorge. Sie spürte, dass er, der ohnehin schon unglaublich viele Überstunden leistete, für Caitlin besonderen Einsatz zeigte, doch es blieb eine Tatsache, dass es ohnehin zu wenige Spenderlebern gab und ihre Tochter überdies eine seltene Blutgruppe hatte. Außerdem gab es noch ein weiteres Problem. Man hatte ihnen bereits erklärt, dass Caitlin an einer chronischen Lebererkrankung litt und Patienten mit akuten Erkrankungen vorrangig behandelt wurden.
Dr. Suddle hatte gesagt, dass auch Organe von Spendern mit anderen, weniger seltenen Blutgruppen zur Transplantation verwendbar seien, also müssten sie sich deswegen keine Sorgen machen. Caitlin würde wieder gesund, ganz sicher. Und Lynn wusste, dass Dr. Suddle dies unbedingt wollte.
Sie wusste aber auch, dass er Teil eines Systems war. Er war nur ein erschöpftes Mitglied eines sehr großen, überarbeiteten und ständig erschöpften, wenn auch mitfühlenden Teams. Und Luke hatte ihr mit seinen Erzählungen Angst gemacht, bis sie selbst im Internet zu forschen begann. Es war schwer, die genaue Zahl jener Patienten zu ermitteln, die in Großbritannien auf eine Lebertransplantation warteten. Dr. Suddle hatte unter vier Augen zugegeben, dass bei ihnen im Krankenhaus neunzehn Prozent der Patienten starben, bevor sie ein Spenderorgan erhielten. Lynn war sicher, dass er nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. In der Mittwochsbesprechung wurden die Prioritäten ständig verschoben, und sie hatte während der langen Wartezeiten mit Patienten gesprochen, die immer weiter ans Ende der Liste gerutscht waren, weil akute Notfälle bevorzugt behandelt werden mussten.
Es war ein Lotteriespiel.
Sie fühlte sich schrecklich hilflos.
Auf dem Tisch lag die dicke Wochenendausgabe des Observer samt der Beilagen, und sie warf einen Blick auf die Schlagzeilen, die weitere wirtschaftliche Katastrophen, fallende Immobilienpreise und eine Zunahme von Insolvenzen prophezeiten. Morgen würde sie wieder zur Arbeit gehen und sich mit den menschlichen Konsequenzen der Krise beschäftigen müssen.
Sie hatte mit fast allen Leuten Mitleid, die sie am Telefon beriet. Es waren meist anständige Menschen, die in eine finanzielle Schieflage geraten waren. Da war zum Beispiel eine Frau, Anne Florence, die in ihrem Alter war und ebenfalls eine kranke Tochter hatte. Ihre Probleme hatten vor einigen Jahren begonnen, als sie für 15000 Pfund einen Wagen auf Kredit gekauft hatte, die Versicherungsbeiträge nicht mehr bezahlen konnte und der Wagen schließlich gestohlen wurde. Sie schuldete dem Autohaus immer noch Geld, stand aber ohne Auto da.
Da sie sich keinen anderen Wagen leisten konnte, hatte sie einen neuen mit Kreditkarte gekauft. Dann hatte sie weitere
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