Und morgen in das kühle Grab
Taxifahrer von New York sich untereinander ein Signal
geben und gleichzeitig ihr Schild out of Service – »außer
Betrieb« – hinter die Windschutzscheibe stellen, wenn sie
mich am Straßenrand stehen sehen.
Das Ergebnis war, dass ich zu spät kam – eine
Viertelstunde zu spät. Mario, der Besitzer, führte mich zu
dem Tisch, an dem Casey wartete. Casey machte ein
ernstes Gesicht. Ich dachte schon, oh Gott, er wird doch
wohl nicht eine große Affäre daraus machen? Er stand auf,
gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und fragte:
»Alles in Ordnung?«
Jetzt wurde mir klar, dass er so sehr an mein pünktliches
Erscheinen gewohnt war, dass er sich bereits Sorgen
gemacht hatte. Das gefiel mir außerordentlich. Ein gut
aussehender, kluger, erfolgreicher, ungebundener Arzt wie
Dr. Kevin Curtis Dillon musste eigentlich bei den vielen
Single-Frauen in New York City hoch im Kurs stehen, und
meine größte Sorge war, für ihn nichts weiter als eine
unkomplizierte Freundin zu sein. Eine bittersüße Situation.
In meiner Zeit auf der Highschool hatte ich Tagebuch
geführt. Vor einem halben Jahr, als ich im Theater zufällig
auf Casey traf, hatte ich es aus meinen alten Sachen
hervorgekramt. Es war peinlich, zu lesen, wie versessen
ich darauf gewesen war, mit ihm zum Abschlussball zu
gehen, aber noch schlimmer waren die anschließenden
Einträge voll bitterer Enttäuschung, als er mich danach
nicht mehr angerufen hatte.
Ich nahm mir vor, dieses Tagebuch wegzuwerfen.
»Mir geht’s prima«, sagte ich. »Nichts weiter als ein
ernster Fall von Taxicabitis.«
Er sah überhaupt nicht erleichtert aus. Irgendetwas
schien ihn zu beschäftigen. »Ist irgendwas nicht in
Ordnung, Casey?«, fragte ich.
Er wartete, bis der Wein, den er bestellt hatte,
eingeschenkt war, dann sagte er: »Es war ein schwerer
Tag, Carley. Die Chirurgie hat ihre Grenzen, und es ist
verdammt frustrierend, wenn man mit der Nase darauf
gestoßen wird, dass man manchmal nur wenig ausrichten
kann, auch wenn man sich noch so sehr bemüht. Ich
musste heute einen jungen Mann operieren, ein halbes
Kind noch, der auf dem Motorrad mit einem LKW
zusammengestoßen ist. Er kann von Glück reden, dass er
den Fuß noch hat, aber er wird ihn nur begrenzt bewegen
können.«
Caseys Augen waren dunkel vor Schmerz. Ich musste an
Nick Spencer denken, der so verzweifelt versucht hatte,
krebskranke Menschen von ihren Leiden zu erlösen. Hatte
er die Grenzen überschritten, weil er unbedingt beweisen
wollte, dass sein Mittel funktionierte? Die Frage ging mir
einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Instinktiv legte ich meine Hand auf die seine. Er sah
mich an und schien sich zu entspannen. »Es tut gut, mit dir
zusammen zu sein, Carley«, sagte er. »Danke, dass du
trotz der kurzfristigen Einladung heute Abend gekommen
bist.«
»Gern geschehen.«
»Auch wenn du dich ein bisschen verspätet hast.« Schon
war der kurze Moment von Intimität wieder verflogen.
»Taxicabitis.«
»Wie steht’s mit der Spencer-Geschichte?«
Während wir uns die Riesenchampignons, den
Brunnenkressesalat und die Linguine alla vongole
schmecken ließen, berichtete ich ihm von meinen
Begegnungen mit Vivian Powers, mit Rosa und Manuel
Gomez und mit Dr. Clintworth im Hospiz.
Als ich erzählte, dass Nicholas Spencer vermutlich
Experimente an Patienten im Hospiz unternommen hatte,
verfinsterte sich seine Miene. »Wenn das stimmt, dann ist
das nicht nur ungesetzlich, sondern auch moralisch
falsch«, erregte er sich. »Denk nur an die vielen
angeblichen Wundermittel, die sich später als untauglich
erwiesen haben. Ein klassisches Beispiel ist Thalidomid
oder Contergan. Es wurde vor vierzig Jahren in Europa
zugelassen und unter anderem bei schwangeren Frauen
gegen Übelkeit verschrieben. Zum Glück hat sich damals
Dr. Frances Kelsey von der nationalen
Gesundheitsbehörde quer gelegt, als es um die Zulassung
bei uns ging. Heute gibt es unter den über Vierzigjährigen,
besonders in Deutschland, Leute mit schrecklichen
genetischen Deformationen, wie etwa verstümmelten
Armen, nur weil ihre Mütter das Medikament für sicher
hielten.«
»Aber habe ich nicht irgendwo gelesen, dass Thalidomid
sehr wirkungsvoll ist bei der Behandlung anderer
Gesundheitsprobleme?«, fragte ich.
»Das ist absolut richtig. Aber es wird nicht mehr an
Schwangere abgegeben. Neue Wirkstoffe müssen über
eine ausreichend lange Zeit getestet werden, bevor wir sie
bei Patienten
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