Und morgen in das kühle Grab
Highschool waren, habe ich einige Male
ihre Zeit am Telefon gestoppt. Einmal hat sie eine Stunde
und fünfzehn Minuten gebraucht, um ihrer besten
Freundin zu erklären, was für Sorgen sie sich mache, weil
sie nicht gut genug vorbereitet sei für die Schulaufgabe,
die am nächsten Tag geschrieben werden sollte. Ein
andermal benötigte sie fünfzig Minuten, um einer weiteren
Freundin zu erzählen, dass sie noch nicht mal die Hälfte
eines Referats in Physik fertig habe, das sie in zwei Tagen
abgeben sollte.«
»Trotzdem hat sie es geschafft, sich einigermaßen
durchzuschlagen«, hatte ich erwidert. Aus Trish war eine
Kinderchirurgin geworden, die mittlerweile in Virginia
lebte.
In Erinnerung an dieses Gespräch musste ich
unwillkürlich lächeln, gleichzeitig machte mir der
Gedanke etwas Sorge, dass ich immer so überaus
bereitwillig auf Caseys Vorschläge einging. Es war noch
eine letzte Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Die Stimme der Anruferin war leise und klang
verzweifelt. Sie nannte ihren Namen nicht, aber ich
erkannte sie – Vivian Powers. »Carley, es ist jetzt vier
Uhr. Vor ein paar Tagen habe ich mir Arbeit mit nach
Hause genommen. Gerade habe ich meinen Schreibtisch
leer geräumt. Ich glaube, ich weiß jetzt, wer die
Aufzeichnungen bei Dr. Broderick mitgenommen hat.
Bitte rufen Sie mich an.«
Ich hatte meine private Telefonnummer auf die
Rückseite der Visitenkarte geschrieben, aber meine
Handynummer stand gedruckt auf der Vorderseite. Ich
wünschte, sie hätte mich auf dem Handy angerufen. Um
vier Uhr war ich gerade auf dem Weg zurück in die Stadt
gewesen. Ich hätte sofort kehrtgemacht und wäre zu ihr
gefahren. Ich holte mein Notizbuch aus der Tasche, suchte
ihre Nummer heraus und rief sie an.
Der Anrufbeantworter schaltete sich nach dem fünften
Klingeln ein, was bedeutete, dass Vivian vor nicht allzu
langer Zeit noch zu Hause gewesen sein musste. Die
meisten Anrufbeantworter lassen es vier- oder fünfmal
klingeln, sodass man Zeit hat, ans Telefon zu gehen, wenn
man zu Hause ist; aber sobald sie eine Nachricht
aufgezeichnet haben, schalten sie sich schon nach dem
zweiten Klingeln ein.
Ich wählte meine Worte sorgfältig, als ich meine
Nachricht aufsprach: »Ich hab mich gefreut, von Ihnen zu
hören, Vivian. Es ist jetzt Viertel vor sieben. Ich werde
noch bis halb acht zu Hause sein und dann wieder gegen
halb zehn. Bitte rufen Sie mich zurück.«
Ich war mir selber nicht so ganz im Klaren darüber,
warum ich meinen Namen nicht genannt hatte. Falls
Vivians Gerät eine Anruferkennung besaß, würde meine
Nummer sowieso auf dem Display erscheinen. Aber für
den Fall, dass sie in Gegenwart einer anderen Person die
Nachrichten abhörte, schien mir das der unauffälligste
Weg zu sein.
Eine kurze Dusche, bevor ich abends ausgehe, hilft mir
immer, die Spannung abzubauen, die sich während der
Arbeit angesammelt hat. Die Dusche in meinem winzigen
Badezimmer ist über der Badewanne angebracht, alles
etwas beengt, aber es funktioniert. Während ich das
komplizierte Zusammenspiel von Heiß- und
Kaltwasserhahn regelte, dachte ich an einen Satz, den ich
über Queen Elizabeth I. gelesen hatte: »Die Königin
nimmt ihr Bad einmal im Monat, ob sie es benötigt oder
nicht.« Vielleicht hätte sie es nicht nötig gehabt, so viele
Leute enthaupten zu lassen, wenn es ihr vergönnt gewesen
wäre, am Ende des Tages unter einer heißen Dusche zu
entspannen, dachte ich.
Tagsüber trage ich am liebsten Hosenanzüge, aber zum
Ausgehen am Abend bevorzuge ich Seidenbluse, Hosen
und Schuhe mit höheren Absätzen. Ich fühle mich auf
angenehme Weise größer, wenn ich so angezogen bin. Als
ich von der Arbeit kam, war draußen die Luft schon
merklich abgekühlt, aber statt eines Mantels suchte ich
einen Wollschal heraus, den mir meine Mutter von einer
Irland-Reise mitgebracht hatte. Sein satter
brombeerfarbener Ton war wunderbar, ich hatte ihn sofort
ins Herz geschlossen.
Ich schaute in den Spiegel und fand, dass ich gar nicht so
übel aussah. Mein zufriedenes Schmunzeln verwandelte
sich allerdings sehr bald in ein Stirnrunzeln, weil mir der
Gedanke überhaupt nicht behagte, dass ich mich so
sorgfältig für Casey herausgeputzt hatte und dass ich mich
so freute, weil er mich kurz nach unserem letzten Treffen
schon wieder angerufen hatte.
Ich verließ das Haus rechtzeitig, konnte aber absolut
kein Taxi ergattern. Manchmal glaube ich, dass sämtliche
Weitere Kostenlose Bücher