Und morgen seid ihr tot
sterbe, sei das kein Beinbruch, meint er.
Am 8. März, es ist Davids Geburtstag, telefonieren wir noch einmal mit der Schweiz. Hans hat uns in einem Brief mitgeteilt, dies sei der letzte Versuch, und es sei das letzte Mal, dass wir telefonieren dürften. Nach kürzester Zeit wird uns klar, dass Nase keine Strategie mehr hat. Er hat die Telefonnummern nicht dabei, weiß nicht, wen wir anrufen sollen. Als wir seine Aktentasche sehen, in der wild durcheinander Notizzettel mit Telefonnummern, Bittbriefe von gefangenen Mudschahedin und Erpresserschreiben sind, verlieren wir jede Hoffnung. Nazarjan meint, wir sollten 50 Milliarden Dollar fordern. Wir sagen, die Summe sei viel zu hoch, aber er winkt ab. Immerhin schaffen wir in diesem Gespräch mit dem Anwalt, das kein Übersetzer mithört, den Standort unseres Gefängnisses durchzugeben. Wir drehen das Wort »Miranshah« um und nennen es »Hashnarim«. Außerdem beschreiben wir die Distanzen, die wir uns eingeprägt haben, die Schlafenszeiten der Hofbewohner, die Lage unseres Zimmers usw. Wir kündigen an, dass wir in zehn Tagen einen Fluchtversuch unternehmen werden, wenn man uns vorher nicht befreit.
Am nächsten Morgen weckt David mich mit einem Snickers, in das er ein Streichholz gesteckt und angezündet hat. »Happy birthday« singt er. Es ist mein Geburtstag, mein neunundzwanzigster. Ich blase das Zündholz aus und teile mir das Snickers mit ihm. Meine Zähne graben sich in den Schokoladenmantel, schneiden in den Karamell und treffen auf den harten Widerstand der Erdnüsse. Ich schließe die Augen. Der Geschmack ist derselbe wie zu Hause.
KAPITEL VI
DIE FLUCHT
15. MÄRZ 2012
Wir sind seit achteinhalb Monaten gefangen. Anfangs hieß es, unsere Entführung sei eine Sache von drei Tagen, dann von drei Wochen, wir glaubten, zum Nationalfeiertag am 1. August 2011 wieder zu Hause zu sein, eine Erinnerung, über die wir jetzt, im März 2012, halb sarkastisch, halb selbstmitleidig lachen müssen. Der Nationalfeiertag ging ohne uns ins Land, die Geburtstage von Liv und Fynn, die Geburtstage unserer Eltern, Weihnachten, Silvester, und schließlich auch unsere eigenen Geburtstage. Die Monate verstrichen, eine unendliche, zähe Masse einander gleichender Tage. Teile unseres Lebens, die einfach ausgelöscht wurden, die man uns genommen hat wie ein Körperglied, das abgetrennt und weggeworfen wird.
Hauptsache, am Leben bleiben, sagten wir uns. Das war unser letzter Strohhalm. Seid vorsichtig, tut nichts Unüberlegtes, rät uns der Schweizer Anwalt am Telefon. Das ist leicht gesagt. Aber was sollen sie auch sagen am Schreibtisch oder im Wohnzimmer, mit Blick auf eine Asienkarte, umgeben von Mitgliedern der Task-Force? Wie sollen wir diese Ratschläge umsetzen, inmitten von Taliban-Kämpfern, die, mit Kalaschnikows, Panzerfaust, Pistolen und Handgranaten bewaffnet, darauf warten, von der Armee attackiert zu werden? Die ihrerseits Minen legen und Militärkonvois überfallen und in einem Krieg leben, der von Afghanistan aus bis weit in das pakistanische Hoheitsgebiet hineinreicht und ganz Nord-Waziristan überzieht.
Achteinhalb Monate lang haben wir uns mit dem Gedanken getröstet, dass die Verhandlungen zu einem guten Ende kommen werden, dass im Notfall unsere Familien das Lösegeld auftreiben werden. Oder dass die pakistanische Armee uns mit einem Sonderkommando befreien wird.
Wir haben unsere Koordinaten durchgegeben, haben sogar den Innenhof sauber gehalten, um zu verhindern, dass die Spezialkräfte in der Nacht über leere Plastikflaschen stolpern oder auf knisterndes Bonbonpapier treten und Dumbo alarmieren könnten. Vergebliche Hoffnungen, Illusionen …
Wir müssen all unsere Energie und Selbstachtung zusammennehmen, um nicht in Bitterkeit oder gar Hohn über unsere Naivität zu verfallen.
Und dann die unendlich langwierigen Verhandlungen. Ein Schritt vorwärts, zwei zurück, dann wieder ein Schritt. Irgendwann schien man sich auf eine konkrete Summe geeinigt zu haben, ja, auf dem Basar hatte man gar die ersten freigepressten Mudschahedin gesichtet. Die Kampfgefährten wurden angeblich mit einem Fest willkommen geheißen. Doch dann versiegte auch diese Quelle der Hoffnung. Weitere Mudschahedin sollten kommen. Sie kamen nicht. Wir hörten Gerüchte, die freigelassenen Männer seien nicht die geforderten oder der pakistanische Geheimdienst habe sie mit Medikamenten vollgepumpt, sodass sie wenige Tage nach ihrem Eintreffen an Nierenversagen
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