Und morgen seid ihr tot
Commander herbemühen.
Ich gehe hinaus in den Innenhof, starre in den Himmel. Die Drohnen treten immer massierter auf. Sie fliegen niedrig, ziehen ihre elliptischen Bahnen über meinem Kopf. Ich hasse sie.
Guildo Horn erzählt, die Rakete, die vor zwei Wochen von einer Drohne abgefeuert worden sei, habe direkt ins Nachbarhaus eingeschlagen. Uns kommt der Verdacht, dass sie für genau dieses VIP -Haus gedacht war, in dem wir sitzen, denn hier treffen sich Taliban-Kommandeure zu wichtigen Lagebesprechungen.
Tatsächlich kommen Nase und Wali zum Abendessen. Sie umarmen David und drücken mir fest die Hand. Wali trägt wie immer seine goldene Uhr und seine olivgrüne Weste, aber ein blutunterlaufenes Auge verleiht seinem Blick einen brutalen Zug. Er nimmt an der Stirnseite des Teppichs Platz, rechts von ihm Nase, links David. Dann folgen ich und die Bewacher. So unkultiviert unsere Bewacher oft erscheinen, die Hierarchien sind klar, und sie werden mit Selbstverständlichkeit eingehalten. Während das festliche Essen aufgetragen wird, fragt Wali: »How are you?«
Wir zucken mit den Schultern und sagen: »Siebeneinhalb Monate.«
Er lacht. Es entwickelt sich eine merkwürdige Tischkonversation, halb auf Englisch, halb auf Paschtu, wobei Wali unsere sprachlichen Fortschritte lobt. Wir wissen, dass wir auch jetzt zuerst über das Wetter, die Drohnen, die Anschläge und die aktuellen Geschehnisse zu reden haben, ehe wir die einzige für uns wichtige Frage stellen können, die sowohl Nase als auch Wali immer zum Lachen bringt: »How long?«
Schließlich wenden wir uns an Nase: »Steht der Telefonkontakt mit Saleem?«
»Nein, es hat seit drei Tagen keinen Kontakt gegeben. Niemand hat sich gemeldet.«
Wir sind wie vom Blitz getroffen. Was soll dann dieses Festmahl? Die ganze Inszenierung?
»Leschgi katschap?«, hake ich nach. »Ist das ein kleiner Scherz?«
»Kein Kontakt.«
»Das kann nicht wahr sein«, sagt David zu mir. »Was machen wir jetzt?«
»Dann war die Nummer falsch«, antworte ich. Ich kann mich einfach nicht geschlagen geben. Diesmal waren alle an der Lösung interessiert. Wir verstummen.
Wali sucht auf seinem eigenen Teller die besten Fleischstücke – ein zartes Herz, ein Filet – und legt sie auf Davids Platz. Er lächelt ihn aufmunternd an und sagt: »Kontakt okay.«
»Kontakt okay«?, fragen wir.
Sie lachen schallend. Wali und Nase sitzen nebeneinander und schlagen sich auf die Schenkel. Wir springen auf, fallen einander um den Hals.
»Esst, danach erklären wir euch alles«, sagen die beiden Talibanchefs.
Wir versuchen, es uns schmecken zu lassen, auch wenn wir am Essen kein Interesse mehr haben, auch nicht an der folgenden Konversation. Wir erfahren, dass es in Pakistan dreißigtausend Taliban gebe, mehr als in Afghanistan, und dass acht Kommandeure sie befehligen. Wir loben Nases gute Behandlung, dass wir echte Freunde geworden seien. Dieser fischt einen Zettel aus seiner Brusttasche, liest uns den Namen von Martin, dem Anwalt, vor, dazu eine Telefonnummer. Es ist dieselbe, die wir von meinen Eltern am Telefon bekommen haben.
Der Kontakt steht!
Nase sagt uns das Codewort (»Hopa-hopa«), dies müssten wir beim Telefonat mit Martin zweimal wiederholen, dann Namen, Geburtsdaten, Heimatland, Namen des Vaters sagen und sämtliche Forderungen wiederholen. Man habe sich noch auf keine Summe geeinigt, die Taliban fordern jedoch fünf Crore.
»Sind das fünf Millionen Dollar?«, fragen wir.
Wali rechnet nach. »Nein, fünfzig.«
Fünfzig? Es hat schon mehrmals Verwirrung um Dezimalstellen gegeben. Der deutsche Taliban hatte einmal von 35 Millionen geredet, was wir für Aufschneiderei hielten. Mit Nase und Wali kann man dagegen ernsthaft reden, doch alles Reden und Hin- und Herrechnen hilft nicht. Es kommen immer wieder fünfzig Millionen heraus. Eine utopische Summe.
Wir schütteln den Kopf.
»Die Schweiz ist ein sehr reiches Land«, sagt Wali. Ich betrachte ihn genauer, seinen gepflegten Bart, seine dunklen, kurzen Haare. Seine Augen strahlen eine freundliche Aufgeschlossenheit aus, er gilt als moderat und kompromissbereit. Aber da ist auch dieser rote Schatten aus geplatzten Kapillaren.
»Ja, aber sie wird ihren Reichtum nicht für zwei normale Bürger opfern«, antworten wir. »Und was geschieht, wenn die Schweiz nicht zahlt? Tötet ihr uns dann?«, frage ich. Zum hunderttausendsten Mal in den letzten acht Monaten.
»Yes«, antwortet Wali bestimmt, »yes.«
Ich reiße meine Augen
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