Und morgen seid ihr tot
Pfeifen. Manchmal antworten wir mit einem ähnlichen Pfeifen, dann sagt er: »Gute Nacht«, fragt, ob alles okay ist. Er könnte auch hereinkommen, aber wir haben alles sorgfältig verstaut, auf den ersten Blick würde er nichts Ungewöhnliches entdecken. Er schlurft träge davon, Richtung Schlafzimmer.
Wir haben das Fass an die Tür unter das Oberlicht gerückt und mit einem Kissen und einer Jacke unterlegt, um ein leichtes Gefälle auszugleichen. David schaut auf die Uhr, sie zeigt 00 : 12 Uhr.
Wir umarmen einander.
Ich lege zwei Abschiedsbriefe und eine Zeichnung für Nazarjan (mit unseren Kindern vor einem Haus in der bergigen Schweiz) ins Zimmer. Erstens wollen wir nicht in Feindschaft scheiden, trotz aller Abneigung gibt es, zumindest bei mir, auch so etwas wie Dankbarkeit gegenüber unseren Entführern, dafür, dass sie uns körperlich nicht misshandelt haben. Außerdem wollen wir, für den Fall, dass man uns wieder einfängt, für ein wenig gut Wetter sorgen. David zieht Gedanken an ein Scheitern der Flucht nicht in Betracht, für ihn sind wir entweder frei oder tot, aber ich gehe gern auf Nummer sicher. Wir schreiben eine Einleitung an Hans, dann weiter an Wali. »Wir hoffen, dass du unsere Entscheidung verstehen kannst. Wali-ur Rehman hat uns am 14. Februar gesagt, ›there is nothing between us‹, und von unserer Seite ist wirklich nichts zwischen uns, außer der Gefangenschaft, der Tatsache, dass wir nicht länger auf unsere Befreiung warten können. Bitte gebt uns das zurück, was uns gehört, nämlich unsere Freiheit. Wir haben lange Zeit gewartet, und eine so lange Trennung von unseren Familien ist für uns sehr schwer zu ertragen. Bitte lasst uns in Frieden gehen. Danke für die gute Behandlung und dafür, dass ihr uns nicht geschlagen habt, danke für die Gastfreundschaft. Und bitte richte Wali-ur Rehman aus, dass wir ihm danken. Bitte sag Nazarjan, dass er sich gut um uns gekümmert hat.«
Da Nazarjan kein Englisch spricht, habe ich für ihn nur ein großes Haus gemalt, einen Baum mit ausladender Krone, einen Berg und eine Bank, auf der wir mit Liv und Fynn sitzen. »Wunderbar, danke, wir sind zu Hause«, steht daneben auf Paschtu. Die Briefe warten seit zwei Tagen in einem Versteck. Jetzt lege ich sie auf eine Box, die uns als Ablage gedient hat.
David blockiert von innen das Türschloss mit einem großen Nagel, steigt barfuß auf das Fass, ich halte seine Beine fest. Er wartet, bis eine laute Drohne kommt, dann zieht er den Riegel des schmalen, frisch geölten Doppelfensters über dem Türblatt auf, wartet, ob sich etwas regt im Hof, und steckt seinen Kopf hinaus. Er starrt in den finsteren Innenhof, in dem sich die sandfarbenen Mauern im Sternenlicht abzeichnen. Nichts bewegt sich. David legt sich mit dem Bauch auf den Fensterrahmen, lässt sich nach unten sinken, ruckelt an dem flachen Schieber und zieht ihn langsam auf. Ich gebe unterdessen von innen Druck gegen den Türrahmen, um das Schloss zu entlasten. Ich weiß nicht, was er empfindet, aber ich fühle mich wie in einer kalten, zähen Masse. Ich spüre Davids stramme Waden zwischen meinen Händen. Sein Kopf ist draußen, sichtbar für jeden, der den Innenhof durchquert. Was sieht er? Worauf wartet er? Auf die Passagiermaschine, die jede Nacht um 00 : 20 Uhr unseren Innenhof überfliegt? Auf die Touristen, die in zehntausend Metern Höhe einem exotischen Urlaubsziel entgegenfliegen, von der Schweiz nach Thailand, in Erwartung eines Pools mit Unterwasserbeleuchtung, fischreicher Tauchparadiese und pikanter Küche? Die ihren Kopf auf die Rückenlehne betten und die Augen schließen? Vielleicht das Bordmagazin in die Hand nehmen und gelangweilt nach Duty-free-Angeboten suchen? Sie überqueren unseren Hof im Sicherheitsabstand. Nichts erfahren sie über die Länder, die unter ihnen dahinziehen. Diese Art zu reisen hatten wir vermeiden wollen. Wir hatten bewusst den Landweg gewählt, wollten nicht einfach in Zürich in ein mit Kunststoff und Teppichboden ausgekleidetes Fluggerät ein- und in Delhi wieder aussteigen.
Der Flieger von 00 : 20 kommt nicht. Ein schlechtes Omen?
David zieht den Kopf herein, schließt das Oberlicht und steigt vom Fass. Wir arretieren die Tür von innen und rollen das Fass an seinen Platz zurück. Ich stopfe die Schlafsäcke aus, lege die Hüte darauf, damit es auf den ersten Blick so wirkt, als würden wir schlafen. Wir ziehen unsere Sherwanis an, David steckt rechts und links je eine
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