Und morgen seid ihr tot
gestorben sind. Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt wir nicht überprüfen können, so wie wir nichts überprüfen können von dem, was Nase uns erzählt, was der Schweizer Anwalt uns am Telefon erzählt, was Dumbo uns erzählt …
Wir leben in einer Glasglocke, die uns vollkommen isoliert von jeglicher Realität, von unserem eigenen Leben, von allem, was wir uns wünschen. Die einzige Gewissheit ist, dass diese Glasglocke früher oder später zerbersten wird, dass Nazarjan, der auf der Abschussliste der CIA steht, irgendwann einen GPS -Sender mit zu uns ins Zimmer bringen wird und dass dieser Sender eine Hellfire-Rakete zu uns locken wird und dass wir dann sterben werden.
Wir sind, falls wir überhaupt noch zu rationalen Überlegungen in der Lage sind, zu dem Schluss gekommen, dass es für uns gefährlicher ist, in diesem Innenhof zu bleiben, als die Flucht zu wagen.
Wir wissen, wir sind im Randgebiet von Miranshah. Wir wissen, dass hinter der dicken Mauer, an der wir schlafen, ein etwa fünf, sechs Meter hoher Abhang liegt. Dahinter beginnt ein Niemandsland aus Geröllhängen, durch die ein Eselspfad führt, etwa anderthalb Kilometer weiter liegt vermutlich eine Militärbasis. Das Mauerwerk unserer Behausung ist aus sonnengetrockneten Lehmziegeln gebaut, die mit Erdreich und Reisig verstärkt wurden. Ein Metalllöffel genügt, um das Material abzuschaben. Doch die Versuche, ein Loch in die Wand zu graben, mussten wir wieder aufgeben. Die Mauer ist zwar nicht besonders hart, aber fast einen Meter dick. Das bedeutet, dass ein achtzig Zentimeter breites Loch etwa einen halben Kubikmeter Lehm und Erde produziert, etwa fünfhundert Kilo, die wir nicht unauffällig entsorgen können. Außerdem platzt Dumbo oft unangemeldet in unser Zimmer, stöbert in unseren Sachen, und früher oder später würde er das halbfertige Loch entdecken. Und das können wir auf keinen Fall riskieren. Bei einem Fluchtversuch erwischt zu werden, wäre eine Katastrophe. Wenn wir es wagen, muss es klappen.
Wir haben von einem amerikanischen Soldaten gehört, der in Afghanistan getürmt ist und nach zehn Tagen wieder erwischt wurde. Zur Strafe wurde er tagelang an einen Pfeiler gekettet, durfte nicht schlafen und wurde immer wieder zusammengeschlagen.
Die Wand zu durchbohren kommt also nicht infrage. Die sechs Meter hohen Umgrenzungsmauern des Innenhofs durch Klettern zu überwinden, ist ebenfalls unmöglich. Wir haben weder Leitern gefunden, noch lassen sich unauffällig Kerben oder Griffe in die Lehmwände schlagen. Immer wieder haben wir in den Stunden des »Hofganges« die Umgrenzungen nach einem Durchlass abgesucht. Vergeblich.
Bleibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen durch das Haupttor. Der Plan ist ebenso simpel wie kompliziert. Soweit wir beobachten konnten, ist das Tor nie verschlossen, auch in der Nacht nicht. Verschlossen ist nur die Tür unseres Zimmers, mit einem Eisenriegel auf der Außenseite.
Unser Plan sieht vor, dass David sich, von mir an den Beinen gehalten, aus dem Oberlicht über der Tür hängen lässt und den Eisenriegel an der Außenseite aufschiebt. (Zwar bin ich leichter, aber auch kleiner, und daher könnte ich außen nicht bis an das Türschloss heranreichen.) Dann durchqueren wir den Innenhof, öffnen das schwere Tor, gehen hinaus auf die Straße, schließen das Tor wieder und verschwinden über die karstigen Hügel zur Militärbasis, die wir bei den Fahrten zum »Telefonhügel« gesehen haben. Unserer Schätzung nach befindet sich diese Basis etwa anderthalb Kilometer entfernt in nordöstlicher Richtung. Sollte uns die Flucht dorthin nicht gelingen, oder sollten wir merken, dass die Soldaten dort mit den Taliban gemeinsame Sache machen (wie und wann wir das merken sollen, und ob es dann nicht schon zu spät ist, fragen wir uns lieber erst gar nicht), dann müssten wir nach Miranshah auf das Flugfeld der pakistanischen Armee laufen. Das wären etwa elf Kilometer. Sollte auch das nicht gelingen, müssten wir die Gegenrichtung einschlagen und uns nach Südosten durchschlagen, in eine Region, in der nicht die Taliban das Sagen haben, sondern die offiziellen pakistanischen Behörden.
Dazu veranschlagen wir etwa achtzig bis einhundertzwanzig Kilometer Fußmarsch. Wir schätzen, dass wir in unwegsamem Gelände pro Nacht rund fünfzehn Kilometer schaffen können. Das hieße eine Woche marschieren. Nachts marschieren, tagsüber sich verstecken, im Geröll, in Höhlen oder in verlassenen Hütten. Genau wie auf dem
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