Und morgen seid ihr tot
Hinweg.
Für beide Optionen haben wir Material gesammelt und eine Liste mit Idealbedingungen aufgestellt: Später Mondaufgang, damit man uns in der ersten Fluchtphase nicht sieht. Dumbo soll möglichst nicht im Nebenzimmer schlafen, damit er keine verdächtigen Geräusche hört. Seit er vom nächtlichen Schreien seines Neugeborenen gestört wird, zieht er häufiger zwei Zimmer weiter. Die Stromversorgung muss gerade unterbrochen sein, damit im Innenhof (und auch im Schlafraum der Frauen) kein Licht brennt. Dumbos Moped soll vor unserer Tür geparkt sein, damit wir es problemlos sabotieren können. Wir brauchen eine klare Nacht, damit Drohnen fliegen und unsere Geräusche überdecken, möglichst eine Nacht von Samstag auf Sonntag, weil dann die Armee ihre Straßensperren errichtet, was für uns bedeutet, dass wir draußen nicht von einem Taliban-Fahrzeug aufgegriffen werden.
Glücklicherweise ist Dumbo ein Messie, der uns in seine Rumpel- und Vorratskammer eingesperrt hat. Wir haben nach und nach Stoffreste, Klebeband, eine Taschenlampe, einen Nagel, eine Infusionsnadel, zwei Fleischermesser, Handgranaten, Kleider, darunter zwei Sherwanis, schwarze und braune Schuhcreme, Zigaretten, ein wenig Bargeld, Jutesäcke und Proviant beiseitegeschafft. Außerdem haben wir eine Art Verkleidung gefertigt. Wir müssen aussehen wie Einheimische. Dazu wollen wir die Sherwanis anziehen, ich will meine blonden Haare abschneiden, eventuell mit Schuhcreme schwärzen. Im Notfall wollen wir auch unsere Gesichter mit dunkler Schuhcreme schminken, damit unser heller Teint nicht auffällt. Sollten wir in Sichtweite irgendwelcher Leute geraten, eventuell auch von Verfolgern aus unserer »Gastfamilie«, wollen wir Gebetsketten hervorziehen und rauchen. Da wir Nichtraucher sind und sie nicht wissen, dass wir uns Zigaretten beschafft haben, wäre dies eine zusätzliche Ablenkung.
Am 14. März sind wir wieder einmal ins Zimmer eingeschlossen, weil Mures Bruder zu Besuch da ist. Er darf nicht wissen, dass hier Geiseln gefangen gehalten werden. Vermutlich weiß er nicht einmal, dass Dumbo für die Taliban arbeitet. Als der Bruder zum Mittagsgebet in die Moschee geht, gestattet Mure uns einen Hofgang.
»Mein Bruder wird einige Tage bleiben. Nazarjan soll euch so lange anderswo unterbringen, damit ihr nicht die ganze Zeit im Zimmer ausharren müsst«, sagt sie.
David und ich schauen einander erschrocken an. Wenn wir verlegt werden, sind sämtliche Fluchtvorbereitungen vergebens gewesen. Wir würden wieder rund um die Uhr von »Jailern« überwacht werden. Aber der 15. März 2012 ist ein Mittwoch. Es steht keine Straßensperre, das heißt die Taliban patrouillieren in der Nacht. Dafür haben wir aber den ganzen Nachmittag und Abend im Zimmer für uns. Da der Bruder im Haus ist, werden wir nicht gestört werden und können alles in Ruhe vorbereiten. Wir gehen die restlichen Punkte unserer Liste durch: Dumbos Moped parkt vor der Tür, der Strom ist ausgefallen, die Drohnen fliegen. Der Mond wird erst gegen zwei Uhr aufgehen. Die kommende Nacht könnte unsere letzte Chance sein.
Es wird Abend. Wir essen und beginnen unser Abendzeremoniell. In den letzten Wochen sind wir immer früher schlafen gegangen, um mehr Zeit für die Vorbereitung unserer Flucht zu haben. Wir kochen uns Kaffee, legen uns hin und warten. Ich dusche ein letztes Mal, denn wir haben noch einige Liter Wasser im Kanister, und die Gasflasche ist auch noch halbvoll. Ich möchte sauber sein in dieser Nacht, die vielleicht unsere letzte Nacht ist oder an deren Ende wir die Botschaft in Islamabad besuchen werden. Um Mitternacht wollen wir aufbrechen. Dann haben alle ihre Gebete verrichtet, Dumbo und die Frauen sind hoffentlich eingeschlafen. Um 00 : 20 Uhr wird ein Passagierflugzeug den Hof überqueren, es fliegt so niedrig, dass der Lärm der Triebwerke alle anderen Geräusche schluckt. Wir liegen auf den Betten und kämpfen gegen unsere Anspannung an. Wir reden kein Wort mehr. Jedes Wort könnte sich nur um eines drehen: Angst.
Um 21.30 Uhr hören wir, dass Dumbo nach Hause kommt. Mino geht das Tor öffnen, seine quietschenden Gummisandalen verraten seine hastigen Schritte. Dann die schweren Schritte von Dumbo, der über den sandigen Boden des Hofes schlurft und mit der Taschenlampe in der Hand auf unsere Tür zukommt. Der Lichtstrahl der wippenden Lampe fingert durch die Ritzen der Holzbohlen. Wie jeden Abend bleibt er dicht am Türblatt stehen, pfeift sein wildes
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