Und morgen seid ihr tot
füttern, das Firmensymbol, das uns immer so verlogen vorgekommen ist, löst jetzt in uns Wehmut aus.
Ich spüre ein dringendes Bedürfnis, und die Entführer deuten auf eine hüfthohe Holzblende, die eine Ecke des Raumes abteilt. Dort ist ein kotiges Loch im Boden. Ich schaue mich um. Sieben, acht Augenpaare sind auf mich gerichtet. Bärtige Männer, die für gewöhnlich nicht einmal das Haar oder das Gesicht einer Frau sehen dürfen. Ich weigere mich, dort auf die Toilette zu gehen. Junkie gibt uns einen Wink, stellt David und mich hintereinander und wirft eine riesige Decke über unsere Köpfe. Dann eskortieren uns die Männer hinaus, wir marschieren unter der Decke wie das Hinterteil eines Kamels, das im Kinderzirkus auftritt. Wir gehen ins Freie, passieren ein Holztor und kommen in einen Innenhof. Durch einen Spalt kann ich Kinder und Babys erkennen, die unter Moskitonetzen schlafen. Frauen und Mädchen, die ersten weiblichen Wesen, die ich seit einer Woche sehe, starren uns an, ehe wir in einen kleinen Raum gebracht werden, wo ich auf die Toilette gehen kann. Dort ist ein kleines Loch in der Wand, aber die Bewacher verbieten mir, hinauszusehen. Ich höre Kinderstimmen, erkenne Bäume in der Ferne und das ausgetrocknete Flussbett vor dem Haus. Wie viele ausgetrocknete Flussbetten haben wir in dieser Woche gesehen? Folge des Hochsommers, aber auch der Energiekrise, unter der Pakistan leidet und die wir bald noch zu spüren bekommen werden. Westliche Konzerne haben dem Land Wasserkraftwerke versprochen, haben dem Energieminister angeblich saftige Schmiergelder gezahlt, die Schmiergelder sind geflossen, die Kraftwerke stehen. In Pakistan gibt es jedoch kaum Wasser und daher selten Strom. Die meisten Häuser sind ohnehin nicht ans Elektrizitätsnetz angeschlossen.
Als David und ich zurück sind, bekommen wir süßes Brot zu essen, dazu Schweizer Apfelsaft und Mineralwasser. Nach diesen sechs Tagen bin ich so ausgehungert, dass ich einen ganzen Laib hinunterschlinge und von den staunenden Männern noch mehr bekomme.
Danach dürfen wir uns schlafen legen, aber auf meinem Bauch krabbeln die Flöhe herum. Es kribbelt und juckt – seit Tagen führe ich einen aussichtslosen Kampf gegen die Parasiten, die sich nicht fassen lassen.
Als wir gegen elf Uhr erwachen, befinden sich zwei Unbekannte im Raum. Ein bärtiger, großer Mann, der uns freundlich anblickt, daneben ein etwa zwölfjähriger Junge, sein Sohn, der sprachlos auf David und mich, vor allem meine Haare, starrt. Der Junge bewegt sich wie ein Kammerdiener, devot und unaufdringlich. Auf Anweisung seines Vaters bringt er uns Wasser und hält die Schale, während wir uns waschen. Danach trägt er Fladenbrot zum Essen auf. Aber wir haben keinen Appetit. Ich beobachte den Jungen, seine unterwürfige Art, stelle mir sein Leben in dieser Umgebung vor und spüre eine Welle von Mitleid. Vielleicht bin ich die einzige blonde Frau, deren Haare er jemals zu Gesicht bekommen wird. Vielleicht wird er nie über die Grenzen dieses Dorfes hinauskommen.
Während die Zeit sich wieder ins Unerträgliche dehnt – um sieben Uhr abends soll angeblich ein Auto eintreffen – und wir ab und zu versuchen, durch das Loch in der Mauer hinauszusehen, kommt ein Mann ins Zimmer, ein »Zivilist«, wie man sofort merkt. Er hat kurzes Haar, ein bartloses Gesicht und eine Brille. Er stellt sich, in perfektem Englisch, als Dorfschullehrer vor und dolmetscht zwischen Junkie und uns. So erfahren wir, dass die Entführer direkten Kontakt mit dem Schweizer Botschafter in Islamabad aufnehmen wollen. Sie würden Geld und vor allem die Freilassung von Gefangenen fordern.
Wieder verspricht uns Junkie, dass er uns nicht töten werde und wir in etwa drei Wochen zu Hause bei unseren Familien seien.
Der Lehrer betont, dass er Junkie und seine Männer zum ersten Mal sehe und nicht wisse, ob sie die Wahrheit sagten. Er erkundigt sich nach unserer Herkunft, unserem Beruf, ob man uns geschlagen habe.
Nein, das habe man nicht. Über die Umstände der Entführung schweigen wir, bitten den Lehrer vielmehr, Junkie in unserem Namen für die gute Behandlung zu danken. Junkie lächelt und revanchiert sich mit der Bemerkung, wir seien gute Leute.
Ich bitte, Junkie zu fragen, ob es ihm leidtue, dass er uns entführt habe, und ob er verspreche, uns wieder freizulassen. Junkie antwortet selbst: »Sorry.«
Der Lehrer ist sichtlich schockiert über unseren Anblick. Er scheint sich rechtfertigen zu wollen und
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