Und morgen seid ihr tot
erklärt, sein Land sei völlig am Ende. Er habe kürzlich Karatschi gesehen, die Trostlosigkeit habe ihm die Tränen in die Augen getrieben. Unsere Entführung sei die Konsequenz aus Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit in Pakistan.
Dann entschuldigt er sich, der Unterricht rufe. Er verabschiedet sich höflich, geht und hinterlässt ein Gefühl der Leere in uns. Seit einer Woche der erste Mensch, der einen vernünftigen und zuverlässigen Eindruck auf uns gemacht hat. Aber auf die Idee, für unsere Befreiung zu sorgen, scheint er nicht gekommen zu sein. Oder ist er unterwegs, um Hilfe zu holen? Geht er nicht zur Schule, sondern zur Polizei? Aber gibt es hier überhaupt eine Polizeistation? Hirngespinste.
Wir betrachten die Tür aus Holzbohlen, auf die das Maschinengewehr gerichtet ist. Nichts passiert. Falls eine kleine Hoffnung gekeimt war, ist sie jetzt schon wieder zunichte. Es wird sieben Uhr, und natürlich kommt kein Auto, nur die Ankündigung, es dauere bis elf. Zeit, die wir mit UNO -Spielen und Dösen, mit der Jagd nach den Flöhen und lustlosen Gesprächen totschlagen.
Kurz nach elf trifft tatsächlich ein Wagen ein. Allerdings müssen wir in dem stickigen Raum bleiben, es werden nur unsere Sachen und die Waffen verladen. Die Fahrt gehe um drei Uhr morgens los, erfahren wir. Warum das Gepäck und die Waffen vier Stunden vorher im Wagen verstaut werden, bleibt eines der unzähligen Geheimnisse unserer Verschleppung. Vielleicht ist Aberglaube daran schuld oder ein religiöses Gebot, denn die Männer fangen nach einigen Stunden Schlaf zu beten an. Länger und inbrünstiger als gewöhnlich. Ihre Stimmen klingen düster und gepresst, jagen mir Schauer über den Rücken, und ich denke an Jesus am Ölberg, der standhaft und aus freien Stücken dem Tod entgegenging – und dennoch Blut schwitzte vor Angst.
Die Männer nehmen Tabletten, Junkie lässt sich von seinem Kampfgefährten Rotchäppli eine Spritze in den Po jagen. Geißenpeter steht daneben, sein Kinn bebt, er kämpft mit den Tränen. Zum ersten Mal scheinen sie die Nerven zu verlieren. Was erwartet uns? Wird es erst jetzt richtig gefährlich? Wir reden beschwichtigend auf unsere Entführer ein, wir, die wir weder wissen, wo wir sind, noch, wo wir hinfahren. Als wüssten wir etwas über die Gefahren, die uns und die Männer erwarten. Noch kennen wir die Erzählungen von den Haftbedingungen in pakistanischen Gefängnissen nicht, noch haben wir keinen der Kämpfer von der Front zurückkommen sehen, versehrt und halb irrsinnig.
Um drei Uhr werden wir hinaus ins Freie geschleust. Dort steht ein Toyota, ein neuer silbergrauer Geländewagen. Ein kleiner, rundlicher Mann wartet daneben, »Troll« werden wir ihn nennen. Ein weiterer Kämpfer, der uns durch die Berge eskortiert hat und den wir den »Vorbeter« nennen, weil er immer in melodiösem Ton die Suren vorträgt, ist plötzlich wieder da. Ein Rätsel, wie dieses Kommando funktioniert, wie die Entführer mit den lokalen Schleppern kommunizieren und die Etappen absprechen. Hin und wieder benutzt Junkie ein Funkgerät, aber meistens hat es keinen Empfang, ein Handynetz scheint es nirgendwo zu geben.
Und doch wirkt alles generalstabsmäßig geplant. Der Wagen ist sauber und hat kein Kennzeichen, dafür ein Blaulicht, das am Zigarettenanzünder angeschlossen ist. Der Kofferraum wird geöffnet. Eine Decke und Kissen werden ausgebreitet, die Panzerfaust und ein Behälter mit Eis und Getränken darauf gestellt. Wir krabbeln hinein.
Mein Herz beginnt zu pochen. Drei Stunden soll die Fahrt dauern, drei Stunden, die wir ohne bewaffneten Konflikt überstehen müssen. Was nicht so einfach sein wird, denn wir vermuten, dass wir im Grenzgebiet zu Afghanistan sind. Nun sind wir nicht mehr fähig, den Männern Mut zuzusprechen. Als der Kofferraum verriegelt wird, fühlen wir uns absolut hilflos. Wir können nur darauf bauen, dass unsere Entführer ihr »Handwerk« verstehen.
Ein Motorrad bildet die Vorhut, ein anderes die Nachhut, der Konvoi setzt sich in Bewegung.
Ich flüchte mich in Gedanken an zu Hause, an meine Kindheit, als mein Vater einen großen, neuen Kombi gekauft hatte und ich einmal heimlich über die Rückbank in den Kofferraum kletterte. Mein Vater fuhr in die Stadt zum Einkaufen, und ich war als blinder Passagier dabei. Ich lag im Kofferraum und fühlte mich sicher wie in einem Nest, spürte die Schlaglöcher in der Hinterachse, die Zentrifugalkraft in den Kurven. Die Angst, von meinem Vater
Weitere Kostenlose Bücher