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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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zusammengepresst wie ein Fötus. Aus der Minute werden fünf, dann zehn. Eines meiner schlimmsten Erlebnisse in der Kindheit waren die Raufereien, bei denen die anderen Kinder sich einfach auf mich warfen und mich mit ihrem Gewicht blockierten. Wenn ich unter ihren Körpern lag, unfähig mich zu bewegen, mich zu befreien, wenn allmählich mein Brustkorb nachgab und die Lunge zusammenquetschte, bis mir das Blut in den Kopf stieg, während in diesem Blut der Sauerstoffanteil immer geringer wurde … So vergehen vierzig lange Minuten. David hat bereits vor zwei Stunden im Niemandsland darum gebeten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Wir seien so gut wie da, war die Antwort. Nun scheint seine Blase platzen zu wollen.
    »Sind wir in Afghanistan?«, presse ich schließlich hervor. Die Männer lachen. Und das nimmt mir die letzte Widerstandskraft. Ich fange wieder an zu weinen, und ich kann nicht mehr aufhören. Mein ganzer Körper zuckt, und ich bekomme einen Heulkrampf, der die Männer in Aufregung versetzt. Sie wissen nicht, wie sie mich beruhigen sollen, herrschen mich an. Junkie kommt zurück und beschwichtigt uns alle, er habe tanken müssen, es sei alles in Ordnung. Ach ja? Eine Dreiviertelstunde, um Benzin in den Tank einzufüllen? Eine Dreiviertelstunde, in der ich fast umkomme vor Angst und Enge? In der niemand sich die Mühe macht, ein Wort der Erklärung zu verlieren? Es ist alles in Ordnung? Ich würde sie am liebsten ohrfeigen, an ihren dämlichen Bärten reißen.
    Sie fahren los und ziehen das Tuch weg. Zwei Minuten Fahrt, und dann halten wir schon wieder. »Was soll das?«, fragen wir. »Warum geht es nicht endlich weiter?«
    »Wir sind da!«
    Wie gesagt, die Gastfreundschaft steht an erster Stelle im Verhaltenskodex der Paschtunen. An zweiter Stelle kommt die Blutrache. Ein Verrat, ein Verbrechen oder auch nur ein Affront werden immer gesühnt. Und wenn der Beleidigte nicht selbst in der Lage ist, für Vergeltung zu sorgen, dann springen Brüder, Verwandte oder andere Mitglieder der Sippe ein. Fehden werden über Generationen weitergetragen, quer durch Stämme und Stammesgebiete. Dies ist einer der Gründe, warum jedes Paschtunenhaus wie ein kleines Fort wirkt. Nach außen sieht man nur eine meterhohe Mauer. So auch hier. Der Jeep rollt neben das große Haupttor, der Kofferraum wird geöffnet, wir müssen schnell durch das Tor huschen, kommen in einen Innenhof und stehen vor einem imposanten Wohngebäude. Krustenfuß sagt, es gehöre seinem Bruder. Er lügt, wir spüren es. Das Haus wirkt freundlich. Ist es das Paradies, das man uns versprochen hat? Mit Dusche, WC und Internetanschluss? Stattliche Bäume, Grün, wir werden in einen großen, hellen Raum geführt, dessen Boden mit Decken und Kissen ausgelegt ist. Plötzlich reißt jemand die Tür auf: eine alte Frau, sie hat eine tiefe Stimme, lacht, ihr rotes Kleid leuchtet, sie wirkt wie ein Kobold. Vielleicht liegt es an dieser unerwartet heiteren Umgebung, an diesem kleinen Idyll mitten in der Ödnis, dass ich mich gar nicht mehr beruhigen kann. Ich weine wieder, schluchze, die ganze Anspannung scheint sich zu entladen.
    Die Frau kommt mit einer elegant geschwungenen Kanne zurück und serviert uns Chai, der hier übliche Gewürztee.
    Wer wir seien?, will sie wissen. Freunde aus der Türkei, lügt Junkie.
    Die Frau mustert mich, und ich erkenne an ihrem Blick, dass sie sich nicht hinters Licht führen lässt. Troll sagt David, dass wir im Haus von Aafia Siddiqui seien. Ein anderer Bewacher macht ihm Zeichen, das dürften wir nicht wissen.
    Dann merken wir, dass auch dieses Haus nicht unser Ziel ist. Die Männer wollen nur rasten, zwei Stunden lang. Als wir das hören, fangen wir zu protestieren an. Wir wollen weiter. Und tatsächlich brechen wir nach einigen Diskussionen auf.
    Wir sind so verblüfft über unseren Erfolg, dass wir uns fragen, wieso die Entführer jetzt plötzlich auf unsere Wünsche eingehen. Haben sie keine klare Strategie mehr? Oder brauchen sie keine Strategie mehr, weil sie nicht mehr in feindlichem Gebiet sind? Aber wo genau sind wir?
    David hat in seiner Ausbildung gelernt, sich anhand von Sternbildern und der Sonne zu orientieren. Während der langen Fußmärsche in den ersten Nächten war ihm das unmöglich, wir brauchten alle Energie, um zu funktionieren, nicht über unsere Füße zu fallen, nicht einzubrechen. Aber jetzt, zurück im Auto, können wir erste Beobachtungen anstellen. Wir sind wohl vor allem in nördlicher Richtung

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