Und morgen seid ihr tot
gesehen haben. Man behandelt uns in dieser schwierigen Situation und in dieser ärmlichen Umgebung mit äußerster Zuvorkommenheit. Auch hier herrscht das eherne paschtunische Gesetz der Gastfreundschaft. Es scheint, als wollten Junkie und seine Männer uns vergessen lassen, dass sie uns entführt haben.
Wir werden zurückgeleitet, durch das Männerschlafzimmer, über die Wiese, durch den Holzzaun. Nun stehen wir wieder vor den beiden Hütten mit den steinernen Grundmauern. Junkie führt uns hinein. Der Boden ist ausgelegt mit Tüchern, Teppichen und Kissen. Ansonsten macht der Raum einen düsteren, verwahrlosten Eindruck. Durch zwei Löcher fällt spärliches Licht herein. An die Wände gelehnt sitzen ungefähr dreißig bärtige Männer, darunter unsere Entführer, die uns herzlich begrüßen und sich gleichzeitig vor dem zahlreichen Publikum mit ihrem Fang brüsten. Sie erzählen, dass ich viel laufe und dass David Karate betreibt (während es in Wahrheit Krav Maga, eine israelische Kampftechnik, ist). Sie geben ihm Kep, und als er es zwischen die Zähne steckt, erntet er viel Applaus. Junkie erzählt, wie David das Ziegenherz gegessen hat, immer wieder fällt ihre Zauberformel »No problem, no tension«, und dann wird auf eine Art gelacht, die so etwas wie Vertrautheit und Komplizenschaft zwischen uns demonstrieren soll, unsere Entführer wollen sich als unsere Kumpel darstellen. Die uns fremden Gesichter starren uns wie Tiere im Zoo an. Diese schizophrene Situation, die Ausgelassenheit und kameradschaftliche Ungezwungenheit unserer Entführer mitzuspielen, gleichzeitig aber immer an die Todesgefahr zu denken, erreicht in diesem Männergemeinschaftsraum ihren vorläufigen Höhepunkt. Wir sind eine Ware, gleichzeitig sollen wir aber Freunde sein. Immer wieder werden unsere Entführer sich bei uns anbiedern, sie suchen nach Anerkennung und erhoffen sich diese ausgerechnet von ihren Opfern.
Dann beginnen die Männer, sich auf das Abendgebet vorzubereiten. Junkie sagt, ein Englisch sprechender Herr werde gleich zu uns stoßen und dolmetschen. Dieser Herr, den wir den »Doktor« nennen werden, wird uns vor Augen führen, was eine Entführung aus einem Menschen machen kann. Er ist Hilfe und Mahnung zugleich für uns.
KAPITEL II
DAS VERSTECK IN DEN BERGEN
9. JULI BIS 14. JULI
Die Ortschaft, in der wir festgehalten werden, liegt in einer grünen Berglandschaft, die entfernt an das Tessin erinnert. Allerdings kein Hochgebirge, wir schätzen, dass wir uns auf etwa achthundert Metern befinden. Die Julihitze ist hier erträglich, die Gegend fruchtbar, wenn auch furchtbar arm. Man sieht keine landwirtschaftlichen Maschinen, gekrümmte Gestalten hacken die Schollen, kümmerliche Hühner laufen umher, hin und wieder begegnet man einer Ziegenherde. Unser Ort besteht nur aus drei, vier behelfsmäßigen Hütten, zu denen sich ein paar große, relativ neue Zelte des UN -Flüchtlingshilfswerks gesellen. Dazu kommen die beiden geräumigen Hütten, die als Gemeinschaftsraum, Moschee und »Freizeitzentrum« für die Männer des Dorfes dienen.
Vor etwa einem Jahr hat die pakistanische Armee in Süd-Waziristan die jüngste Großoffensive gegen die Taliban gestartet. Viele Einwohner sind in den Norden geflohen und wohnen hier nun in den »Shawals«, wie unsere Entführer diese Bergregion nennen, in provisorischen Unterkünften.
Unsere Verschleppung von Belutschistan in die FATA (»Federally Administered Tribal Areas«) war wohl auch deshalb so kompliziert und langwierig, weil das von der Armee kontrollierte Süd-Waziristan umgangen werden musste. Vermutlich sind wir auf dem Weg Richtung Norden auch über Afghanistan geschleust worden.
Unsere erste Begegnung mit dem Doktor findet in dem Gemeinschaftshaus statt, das aus einem Vorraum besteht, wo alle ihre Schuhe abstreifen, und dem eigentlichen Saal, der als Moschee dient. Wie gesagt, ein muffiger, düsterer Raum, der mit Teppichen und Matten ausgelegt ist, in dem sich die Männer zum Beten und Palavern treffen.
Als die Männer sich gerade zum Beten fertig machen, erscheint ein schmächtiger bärtiger Greis in einem weißen Gewand, der eine Gebetskette wie einen Schwanz hinter sich herschleift. Sein weißes Haar ist verstrubbelt, seine Fuß- und Fingernägel sind lang, er wirkt gebrechlich und fast ein wenig vergeistigt, so wie ich mir den Starez aus Dostojewskis Brüder Karamasow vorstelle. Junkie springt auf und umarmt den Alten, auch von allen anderen Männern wird er
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