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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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respektvoll und freundlich begrüßt. Dies also ist der Doktor, der uns angekündigt worden war.
    An uns wendet sich dieser mit einem Gruß in fließendem Englisch und dem Hinweis, er müsse nun vorbeten. Er geht nach vorne, kniet sich auf den Boden und beginnt, in einem getragenen Singsang arabische Formeln vorzutragen, die von den Männern beantwortet werden. Immer wieder verbeugen sie sich, werfen ihren Oberkörper auf den Boden, eine feierliche Atmosphäre erfüllt den Raum, bis der Doktor nach etwa einer Viertelstunde mit einer Schlussformel das Ritual beendet.
    David und ich haben still abgewartet und sehen den Mann nun wieder auf uns zukommen. Man nenne ihn den Doktor, weil er Arzt sei, hören wir. Als er erfährt, dass wir aus der Schweiz sind, beginnt er im Konversationston und in gewähltem Englisch zu erzählen, er kenne die Schweiz ebenso wie Paris, einen Großteil seines Lebens habe er allerdings in London verbracht, wo er studiert und eine eigene Praxis geführt habe.
    Wir sind im ersten Moment erleichtert, mit jemandem, der unsere Welt kennt, ein richtiges Gespräch führen zu können, welche Rolle auch immer dieser Doktor ausfüllen mag, Vorbeter, Dorfältester, geistiger oder geistlicher Führer. Er wirkt wie achtzig, auch wenn er behauptet, erst fünfundsechzig Jahre alt zu sein.
    Nachdem wir eine Weile in normaler Stimmlage geredet haben und die allgemeine Aufmerksamkeit für unser Gespräch nachlässt – unsere Entführer behaupten zwar, Englisch zu verstehen, doch den Beweis sind sie bisher schuldig geblieben –, raunt er uns plötzlich zu: »Ich bin ebenfalls entführt.«
    Wir glauben, nicht richtig verstanden zu haben. Der Mann spricht Paschtu, scheint mit allen hier befreundet zu sein, doch er wiederholt: »Actually, I’m their hostage, too. They kidnapped me one year ago.«
    Vor einem Jahr? Wo ist er entführt worden? Von wem?
    Von Junkie. Seit Jahren gehe er auf Beutezüge und habe sich damit einen gewissen Wohlstand erarbeitet, sogar ein Haus mit Betonfundament. Wir denken an das Gebäude, in dem wir Junkies Mutter getroffen haben. Der Arzt erzählt weiter, von dieser riskanten Arbeit rühre wohl auch Junkies Tablettensucht her.
    Das Gemurmel in der Moschee verstummt, die anderen Männer sind misstrauisch, als sie uns flüstern hören, sie schauen herüber, und sofort versucht der Doktor, die Situation zu überspielen, indem er in ungezwungenem Ton weiterredet.
    David und ich blicken einander an. Ist der Alte verrückt? Oder ist er ein Spion, der uns aushorchen will? Doch was könnten wir ihm schon verraten?
    Der Arzt erzählt von seiner Familie, von den dreiunddreißig Jahren, die er in London verbracht hat, von einem Krankenhaus, das er im Norden Pakistans aufbauen wollte, gegen den Willen der Taliban, und dazwischen stößt er immer wieder abfällige Bemerkungen hervor: »These are all assholes«, »stupid people«.
    Wir sind am folgenden Tag fast ständig mit dem Arzt zusammen und bekommen wichtige Informationen von ihm. Nach und nach legen wir unser Misstrauen ab. Wir merken, dass der Greis zwar von den anderen Männern ob seines Alters geachtet wird, sich aber vor Repressalien hüten muss. Er habe die letzten vier Monate in einem Kellerloch verbracht, ohne Tageslicht, ein Bewacher, ein zum Sadismus neigender sechzehnjähriger Bursche, habe ihm einmal täglich widerlichen Fraß durch eine Art Oberlicht geschoben und sich einen Spaß daraus gemacht, ihn einzuschüchtern. »Keiner will für dich zahlen, morgen bringen wir dich um«, habe er ein ums andere Mal gehöhnt. Die englischen und die pakistanischen Behörden hätten nämlich die Verhandlungen mit den Taliban ergebnislos abgebrochen, und somit habe der Doktor plötzlich seinen »Marktwert« verloren. Nun war er nur noch ein Klotz am Bein, den man durchfüttern musste. Die letzte Hoffnung war die Familie des Doktors, von der man lausige 70   000   Dollar zu erpressen suchte.
    David und ich haben Mühe, den Mann ernst zu nehmen. Aber sein körperlicher Zustand passt zu den bizarren Erzählungen. Auch kennt er die topografische Lage des Dorfes genau. Es liege etwa hundertzwanzig Kilometer westlich von Peshawar, Islamabad sei dreihundert Kilometer entfernt.
    Als wir ihm sagen, dass Junkie uns ein Doppelzimmer mit Telefon und Internetanschluss versprochen habe, erwidert er, das seien alles Lügen. Dann stellen wir die Frage, die sich unablässig in unserem Kopf dreht. Wir stellen sie, obwohl wir Angst vor der Antwort haben. »Wie

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