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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Hocktoilette, die wir manchmal in einer Stunde drei, vier Mal aufsuchen müssen. Neben der Verdauung haben wir vor allem mit der unglaublichen Hitze und den Stechmücken zu kämpfen. Man hat uns einen Ventilator ins Zimmer gestellt, der gegen beides hilft, allerdings nur, wenn der Strom fließt. Oft ist er nur eine halbe Stunde da. Da die meisten Bewohner der Gegend am Abend einen Ventilator ans Stromnetz hängen, bricht dieses vor Überlastung schnell zusammen, und dann liegen wir stundenlang neben dem Rotor, der sich nicht rühren will, wir schwitzen, schlagen nach den Insekten und warten vergeblich auf den Schlaf. Wir flüchten ins Freie, doch dann sind die Schüsse wieder so laut, dass wir nicht einschlafen können, trotz Ohropax (ein halbes Ohropax je Ohr), und wir tragen das Bett wieder ins Zimmer. So geht es oft stundenlang hin und her, bis die Sonne wieder aufgeht und den Innenhof noch weiter aufheizt, während die Stechmücken verschwinden und dafür Fliegen kommen, die sich in Scharen auf unsere Gesichter setzen.
    Die Privatsphäre, die wir auf einmal wieder genießen, führt dazu, dass wir weniger abgelenkt sind. Unsere Gedanken drehen sich im Kreis. Wie weit sind die Verhandlungen? Wann kommen wir frei? Warum bringt niemand eine Botschaft für uns?
    Wir essen morgens einen Bissen, und dann beginnt der Kampf gegen die Zeit. Wir erzählen einander unsere Träume, beginnen mit unserem Sportprogramm, versuchen, einander Mut zu machen, während wir auf die hohen Sandmauern mit dem einzigen (verschlossenen) Fenster starren. Kein bisschen Grün, kein Leben, wir könnten tagelang auf dem Bettgestell liegen, schlafend oder wach, lebendig oder tot, es wäre vollkommen gleichgültig. Denn nichts geschieht, die Farben sind immer dieselben, Beige, ein wenig Braun, darüber der blaue, gewaltige Himmel. Wir werden hier vergessen, werden verrecken, denken wir, niemand wird uns finden und unsere Leichen identifizieren. Unsere Eltern werden nie erfahren, dass wir hier unsere letzten Lebenstage verbracht haben, und werden ihrerseits bis an ihr Lebensende warten und leiden. Für nichts. Wir schauen auf die Sturmgewehre unserer Bewacher, auf die schlanken Silhouetten der Drohnen, die ihre Raketen über uns spazieren tragen und auf ein Abschussopfer lauern. Wir müssen permanent den Gedanken ausblenden, dass wir von potenziellen Zielpersonen umgeben sind. Dies ist die eine tödliche Gefahrenquelle. Die andere stellen unsere Bewacher selbst dar. Immer wieder fragen wir sie, ob sie uns gewiss nicht umbringen werden. Nein, geben sie uns zur Antwort. Aber auf diese Antwort ist kein Verlass. Chorie, den wir Depp nennen, sagt mehrmals täglich »kill«, und dann sägt er mit seiner Handkante auf seinem Unterarm hin und her und zeigt auf meinen Kopf. Taliban-Kommandos haben auch wehrlose NGO -Mitarbeiter, Touristen und selbst Helfer des Roten Kreuzes, das ihnen bei Kampfhandlungen in der Gefahrenzone medizinische Hilfe zukommen ließ, erschossen. Jeden Morgen, an dem wir aufwachen, wissen wir, es könnte der letzte Tag unserer Gefangenschaft sein, aber auch der letzte unseres Lebens.
    Trotzdem sind wir uns von Anfang an einig: Wir werden diese Entführung überleben. Wir werden uns nicht brechen lassen und innerlich Widerstand leisten. Durch unsere Ausbildung als Polizisten und die Lektüre verschiedener Bücher wissen wir, dass zur Aufrechterhaltung unserer Widerstandskraft eine wohldosierte Disziplin notwendig ist. Wir dürfen weder unseren Körper noch unseren Geist verkommen lassen. Das heißt, wir müssen auf Hygiene achten und auf sportliche Betätigung, die unseren Organismus stärkt und gleichzeitig ein uns vertrautes Körpergefühl erzeugt. Wir müssen trainieren, damit das Herz pumpt und wir spüren, dass es sich noch bewegt und wir uns noch bewegen können.
    Wir werden auch Hirnjogging betreiben und versuchen, unsere Entführer möglichst regelmäßig in Gespräche zu verwickeln, was allerdings schwierig ist, da sie kein Englisch können und wir kein Paschtu.
    Wir sind ohnehin neugierige, aufgeschlossene Menschen, aber man sollte in solchen Gewaltsituationen ganz gezielt Kommunikation betreiben, weil diese den Tätern Misshandlungen erschwert und einen aus der rein passiven Opferrolle herausholt. Durch Kommunikation gibt man sich das Gefühl, am Leben teilzunehmen, auf den Alltag Einfluss zu haben und somit ein gewisses Maß an Kontrolle zurückzugewinnen. Sollte dies alles nur eine Illusion sein, so ist es zumindest eine

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