Und morgen seid ihr tot
Wirklichkeit Nazarjan heißt, gibt uns mit Zeichensprache zu verstehen, dass wir vor Sonnenuntergang nicht in das neue Versteck gehen können. Er scheint der neue Anführer zu sein. Und bald wird er zu unserer wichtigsten Bezugsperson werden.
Mit Gesten frage ich, ob wir nicht ein wenig gehen könnten. Nase startet den Wagen, und kaum ist er vom Flussbett auf eine Schotterstraße gewechselt, gibt er Gas wie ein Besessener. Guildo Horn klammert sich am Armaturenbrett fest und wirft uns hin und wieder ein angestrengtes Lächeln zu. Nach etwa vierzig Minuten hält Nase an einem kleinen Fluss und deutet an, wir könnten aussteigen. Wir schieben die Beine hinaus, gehen durch die stickige Schwüle, spüren endlich unsere Muskeln und Glieder wieder, auch wenn die Luft kaum zu atmen ist. Das Wasser in dem Flüsschen ist handwarm, aber trotzdem hat es, als wir uns waschen, eine erfrischende Wirkung. Guildo entdeckt im seichten Wasser einen Aal, verfolgt ihn mit seiner Kalaschnikow und versucht, ihn mit dem Schaft und einem Stein zu erwischen, doch der Aal kann entkommen. Die Taliban scheinen fast alle Tiere zu fürchten oder zu hassen. Aber ihre Mordanschläge laufen zum Glück meist ins Leere.
Wir steigen wieder ein und brechen zu unserem Versteck auf. Der Autoverkehr ist kurios. Abgesehen von wenigen bunt dekorierten Lkw scheint es nur ein Kfz-Modell zu geben: Den Toyota Corolla Kombi, weiß lackiert, ohne Kennzeichen und mit dunkel getönten Scheiben. Auch die Windschutzscheibe ist, bis auf einen schmalen Sehschlitz, getönt. Wie wir später erfahren, dient dies zur Tarnung. Spionen und Drohnen fällt es so schwerer, Fahrzeuge und damit Personen, die auf der Abschussliste von CIA und ISI (»Inter-Services Intelligence«), dem pakistanischen Geheimdienst, stehen, zu identifizieren.
Wir erreichen die Sandburg kurz nach Einbruch der Dunkelheit und werden sofort mit Essen begrüßt. Wir sitzen mit dem Kommando zusammen und versuchen, uns irgendwie zu verständigen. Der Innenhof wirkt farblos, karg und trostlos. Eine am Kabel baumelnde Glühbirne erleuchtet schwach die beklemmend hohen Mauern. Zwei Ventilatoren stehen neben den Matten, auf denen wir essen werden.
Wir wollen in erster Linie wissen, wohin das Video gegangen ist, ob es bereits gesendet wurde und Wirkung gezeigt hat. Wir benutzen unsere bescheidenen Paschtukenntnisse, fertigen Zeichnungen an, aber unsere Bewacher wollen uns nicht verstehen. Ihr Anführer, Nazarjan, erhebt sich nach dem Essen, umarmt David, gibt uns zu verstehen, dass ihm unser Schicksal am Herzen liegt, und dann geht er. Ich frage ihn, wann er wiederkommt. »Sabu« bedeutet »morgen«, »belsabu« übermorgen. Nase sagt: »Bel bel belsabu.«
Und damit beginnt wieder das Warten. Gemeinsam mit unseren vier Bewachern, die recht zugänglich, in ihrer Unterwürfigkeit gegenüber religiösen und militärischen Vorschriften aber auch unheimlich sind. Dumbo ist ein fülliger Mann, der gut gelaunt ist, solange es ausreichend zu essen gibt, Guildo Horn mit seinem schütteren Haar vertreibt sich und uns manchmal die Zeit mit harmlosen Faxen, der »Priester« hat seinen Spitznamen bekommen, weil er den Koran am gründlichsten studiert hat und in getragenem Gesang rezitiert. Der vierte Mann ist Locke, der im Kofferraum des Autos saß. Er schweigt meistens, ist zurückhaltend, fast abweisend, und in seinen stillen, hintergründigen Augen scheint der Fanatismus der Fundamentalisten zu lauern. Noch wissen wir nicht, dass Locke für uns eine Schlüsselrolle spielen wird. Nach einiger Zeit wird auch noch »Depp« zu uns stoßen, der selbst von den simpelsten Aufgaben überfordert scheint.
Immerhin kann ich durchsetzen, dass wir beim Schlafen nicht eingeschlossen werden. Deshalb können wir, um der unerträglichen Hitze im Zimmer zu entgehen, das Bett nach draußen tragen. Zu unseren Privilegien in der neuen Unterkunft gehört, dass wir in unserem kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer einen Gaskocher benutzen und uns Lebensmittel bestellen dürfen. Allerdings ist Dumbo für die Besorgungen zuständig, und wir merken bald, dass er uns belügt und tagelang absichtlich nichts mitbringt. Daher sind wir oft gezwungen, bei den Bewachern mitzuessen, was jedoch fast immer zu Magen-Darm-Infekten führt. Haben wir doch genug Lebensmittel, um ein ganzes Mahl zuzubereiten, dann kochen wir vor allem Kartoffeln und Makkaroni, aber vom ersten Tag an leiden wir unter Durchfall. Glücklicherweise gibt es zumindest eine
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