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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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direkt mit der Schweizer Botschaft verhandeln. Ein enormer Vorteil, wie wir meinen, denn die Rolle der pakistanischen Behörden, zumal des Geheimdienstes ISI , ist uns ausgesprochen suspekt. Die Schweiz ist zuverlässig, effizient, schnell. Am 27.   Juli haben wir außerdem im Radio vernommen, dass Wali-ur Rehman, der zweithöchste Kommandeur der pakistanischen Taliban, sich zu unserer Entführung bekannt hat, und wir malen uns aus, welchen Druck dies erzeugen wird. Außerdem glauben wir, ein Mann, der mit seinem Gesicht für die Entführung einsteht, wird uns nicht ohne Weiteres erschießen lassen.
    Auch unsere Eltern in der Schweiz werten den Medienaufruf als positives Zeichen. Wie wir überhaupt später erfahren werden, dass unsere Stimmungsschwankungen häufig im Gleichklang waren.
    Ich schiebe mit dem Priester den Müll zur Seite. Es steht ein großer Baum im Hof, der ein wenig Schatten spendet, es gibt eine Feuerstelle, und meine Fantasie beginnt, dieses Ambiente als Restaurant einzurichten. Ich höre die Gläser klingen, das Klappern des Bestecks, die Gäste tafeln und lachen. Ein Jahr lang habe ich ein Speiselokal gemanagt, habe gelernt, auf den Gesichtern meiner Gäste, am Tonfall ihrer Gespräche und am Gang der Kellner den Erfolg der Küche abzulesen. Ich schließe die Augen, und dann ist diese Tonspur wieder da, mischt sich mit der warmen Luft in meiner Nase, dem Surren der Propeller, als wären es keine Drohnen, sondern Sportflugzeuge von Touristen, die das Bergpanorama von oben genießen.
    Ich habe neue Energie, laufe unermüdlich Runden, vier bis sechs Stunden lang, elf Sekunden pro Runde, pro Tag etwa tausend. Ich mache Gymnastik und versuche, einen Teil meines Elans auf David zu übertragen. Seit der Entführung in Loralai, vor inzwischen fünf Wochen, war David immer der »Stärkere« gewesen, der mir Mut gemacht und einen Ausweg für jede Situation aufgezeigt hat (auch jetzt versichert er mir, unsere Familien und Freunde würden für uns kämpfen), aber nun kehren sich die Verhältnisse um. David hat immer wieder Fieberschübe, er döst vor sich hin, ist dann wieder wach und friert, hat Gliederschmerzen, fragt nach Decken und Tabletten. Seine Augen glänzen, und schließlich kann er die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzt, was ich von ihm nicht kenne. Dann wieder ist er apathisch und scheint dem Koma nahe zu sein.
    Am 7.   August, am 38. Tag unserer Entführung, flüstert David mir zu, er spüre, dass er gleich das Bewusstsein verlieren werde, alles rücke immer weiter von ihm ab, er werde sterben. Ich laufe zitternd und weinend zu den Bewachern und sage, dass David stirbt, wenn sie nicht sofort etwas unternehmen. Abdullah, der »Priester«, unterbricht sein Gebet und verlässt den Innenhof. Nach ein paar Minuten kehrt er zurück und sticht mit einer Nadel in Davids Finger. Er lässt zwei Blutstropfen auf ein Glasplättchen fallen, presst eine zweite Scheibe darüber und geht damit aus dem Hof. Er werde das Blut analysieren lassen, gibt er zu verstehen.
    Als er zurückkommt, starre ich ihn erwartungsvoll an. Er schüttelt den Kopf, verzieht das Gesicht. Was heißt das? Ich spüre, wie ich die Kontrolle verliere. Was hat er für eine Diagnose mitgebracht? Keine, glaube ich seinen Gesten zu entnehmen. Er brauche mehr Blut. Er holt eine Einwegspritze hervor, steckt eine Kanüle darauf und schiebt Davids Ärmel zurück. David hat eine fahle, schweißnasse Haut, unter der die Adern als dünnes, grünliches Geäst schimmern. Der Priester sticht in den Unterarm, verfehlt jedoch die Vene. Trotzdem spritzt das Blut. Ich wende mich ab, höre, wie die Jailer, wie die Bewacher im Taliban-Jargon heißen, verhandeln und drei, vier Mal zustechen. David wird ungehalten und will sich die Kanüle selbst setzen, aber da hat die Nadel endlich die Wand eines größeren Gefäßes durchdrungen. Der Priester zieht das Blut auf und verlässt mit der gefüllten Spritze den Hof.
    Die Bewacher versuchen unterdessen, David zu trösten. Sie fächeln ihm Luft zu, alle warten. Nach etwa einer halben Stunde kommt der Priester zurück. Er hat ein Blatt Papier dabei, auf dem in fetten Lettern steht: » HAMID . Medical Laboratory & Blood Bank«. Die Adresse des Labors liegt in Miranshah, und so haben wir zum ersten Mal einen Hinweis auf unseren Aufenthaltsort. Auf dem Formular sind Zeilen für Hämatokrit, Eiweißkonzentration und andere Blutwerte. Keine ist ausgefüllt. Nur bei »Malaria Parasites« steht ein

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