Und morgen seid ihr tot
Illusion, die uns Kraft gibt. Und Kraft werden wir brauchen, wie viel, das können wir uns jetzt noch nicht einmal in unseren pessimistischsten Träumen ausmalen.
Am Sonntagabend, dem 17. Juli, wird uns eine Mail von Fabian überbracht. Fabian, dem Taufpaten unserer Reise, der die Sicherheits- und Verkehrslage sowie Wetteraussichten für jede bevorstehende Etappe recherchierte. Er war unsere Leitstelle, und er ist einer unserer besten Freunde, dem ich fast täglich Briefe schreibe, die wir nicht abschicken können. Fabian. Über zwei Wochen waren wir von ihm abgeschnitten, und jetzt steht der Kontakt wieder! Wir sind voller Hoffnung, auch weil in der Mail zwei Identifizierungsfragen gestellt werden: Wie heißt der Hund eines gemeinsamen Bekannten? Wie heißt Davids Patenkind (Fabians Tochter)?
Fabian ist also in den Verhandlungsprozess eingebunden. Unsere Entführer müssen den Beweis erbringen, dass wir tatsächlich bei ihnen sind. Und dass wir am Leben sind. Endlich sind die Verhandlungen in Gang gekommen! Sofort stürmen Bilder auf mich ein. Von der Rückreise, von der Ankunft in der Schweiz, von den Freunden, unseren Eltern, die am Flughafen auf uns warten. Aber wir dämpfen unsere Hoffnung und sagen uns, dass wir Geduld haben müssen. Wir überschlagen, wie lange die einzelnen Operationen bis zur Freilassung dauern könnten. Wenn man sich schnell auf ein Lösegeld einigt, dann muss wahrscheinlich ein Bote kommen, einen Vertreter der Taliban treffen … Drei Tage, vier?
Wir beantworten die Fragen, schreiben die Antworten auf einen Zettel, und dann warten wir wieder. Aber die Tage vergehen, ohne dass wir Nachricht von Junkie oder Nase bekommen, ohne dass auf die Mail eine Reaktion erfolgt. Wir starren stundenlang auf das große Metalltor, durch das nach Einbruch der Dunkelheit der Chef, Nase, kommen soll, der Einzige, der direkt in die Verhandlungen involviert ist. Tagelang lauschen wir auf Motorengeräusche. Durch Zeichnungen und Gesten versuchen wir, unseren Bewachern zu erklären, was wir wollen. Und wir wissen nicht, ob deren Ratlosigkeit daher rührt, dass sie uns nicht verstehen, uns nicht verstehen wollen oder dass sie genauso wenig wissen wie wir. Angeblich gibt es Probleme mit Straßensperren. Deshalb könne uns niemand aufsuchen. Die Bewacher haben keinen Kontakt nach außen. Nur Dumbo hat jeden Abend eine viertel oder halbe Stunde Funkverkehr.
Der 1. August, der Nationalfeiertag, rückt immer näher. Wir waren sicher: Spätestens dann werden wir wieder in der Schweiz sein. Am 31. Juli passiert tatsächlich etwas. Es fließt gerade Strom, der Innenhof ist von der Glühbirne schwach erleuchtet, als der weiße Toyota hereinrollt. Nazarjan steigt aus, neben ihm ein Unbekannter mit Bart. Uns wurde immer wieder ein Übersetzer angekündigt, und wir hoffen, dass er uns wichtige Neuigkeiten zu übermitteln hat. Vielleicht stehen wir vor dem entscheidenden Schritt in den Verhandlungen, und die Taliban brauchen präzise Informationen.
Die beiden beten und kommen dann auf uns zu. Wir sitzen vor unserem Zimmer neben dem Ventilator, der die heiße Luft in heißen Wind verwandelt. Nase umarmt David und nickt mir abweisend zu. Der Unbekannte stellt sich tatsächlich als der Übersetzer Ali vor und reicht David die Hand, mich ignoriert er. Er entschuldigt sich in perfektem Englisch, dass er jetzt essen gehen müsse. Er werde aber einige Tage bleiben, für uns dolmetschen und immer für uns da sein. Die erhofften Neuigkeiten hat er nicht mitgebracht.
Der 1. August kommt und geht und hinterlässt ein Gefühl von Trostlosigkeit und Verzweiflung in uns. Ich sehe vor meinem inneren Auge unsere Freunde, die in einem Café sitzen, die Konzerte besuchen, die ihre Kinder von der Schule abholen, den Rasen mähen. Ich sehe meine Mutter, die spazieren geht und mit ihrer besten Freundin in einem Gasthaus einkehrt, ich sehe die Flugzeuge, die über uns dahinziehen und frage mich: Wo werden sie landen? Wer sitzt darin? Ich male mir all diese Bilder und Fragen aus, bis David sagt, ich solle damit aufhören, es mache ihn verrückt.
Ich kann damit nicht aufhören. Aber ich behalte nun meine Gedanken für mich. Zumindest für ein paar Stunden, bis die Vorstellungen wieder so stark sind, dass ich sie einfach mitteilen muss.
Die Hitze ist eine ständige Qual. Wir benetzen unsere Kleider mit Wasser, in der Hoffnung auf Abkühlung. Durch das Schwitzen haben wir Pusteln am ganzen Körper, dazwischen Moskitostiche. Es gibt
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