Und morgen seid ihr tot
Eintrag.
Wir sind, glaube ich, positiv eingestellte Menschen. Teil unserer Grundüberzeugungen ist, dass wir, auch wenn wir keine streng konfessionelle Religiosität haben, doch an das Gute im Menschen glauben, dass wir der Meinung sind, es gebe so etwas wie eine übergeordnete Gerechtigkeit und Sinn im Dasein. So schwer dieser Sinn im Moment auch zu erkennen ist, wir nehmen an, dass diese Entführung uns zwar zeichnen, dass sie uns das Äußerste abverlangen wird, aber dass sie zu einem guten Ende kommt, sich am Ende womöglich als Erfahrung erweist, die uns wachsen lässt, uns zeigt, dass die Welt nicht nur aus Schwarz und Weiß besteht.
Wir haben in unserem Leben viel Glück gehabt, wir sind in kulturellem und materiellem Reichtum aufgewachsen, haben Freunde, Talente, die wir uns nicht erarbeitet haben, sondern die uns einfach in die Wiege gelegt worden sind. Egal, wie lange diese Entführung dauern wird, wir sind Glückspilze, das sagen wir uns immer wieder vor.
Der Priester erzählt uns, er habe in dem Labor gesagt, das Blut sei von einem Mudschahed. Das Ergebnis sei positiv. Malaria.
Ein einziger Stich von einer der Millionen Mücken, die uns seit sechs Wochen umschwirren, hat David einen Erreger injiziert, der ihn zu einem anderen Menschen macht. Für immer. David, ohnehin am Ende seiner Kräfte, hat einen Einbruch, der unsere Vorsätze über den Haufen wirft: Selbstdisziplin, positives Denken, aktive Grundhaltung. Dies alles ist eine billige Selbsttäuschung angesichts der mit Kugelschreiber gekritzelten Buchstaben auf dem grauen Papier. Die Bewacher geben uns zu verstehen, dass sie mit Malaria Erfahrung haben, und tatsächlich besorgen sie David einen Cocktail aus Medikamenten, der ihm nach zwei Tagen schon Linderung verschafft.
Zumindest für ein paar Stunden. In der Nacht hat er wieder Gliederschmerzen und Schüttelfrost. Die Bewacher lösen sich an seinem Bett ab und fächeln ihm weiter Luft zu.
Auch Davids Vater hatte sich als junger Mann Malaria eingefangen. Als Helfer eines Filmteams war er mit zwanzig Jahren nach Brasilien gereist, und bei seiner Rückkehr nach Europa trug er den Erreger in sich. Allerdings wissen wir nicht, welche Variante David sich eingefangen hat. Wir können nicht abschätzen, welche Konsequenzen ihm drohen, ob er mit Organversagen oder ähnlichen Komplikationen rechnen muss.
Ich muss etwas unternehmen. Bei dem Gedanken, dass sich die Schweizer Behörden mit Kompetenzfragen womöglich gegenseitig blockieren, während die Taliban darauf warten, dass irgendwelche Straßensperren aufgehoben werden oder irgendein Handlanger von einem Führer wieder einmal die E-Mails kontrolliert und nachsieht, ob zufällig das Lösegeld bewilligt wurde, packt mich die Wut. Wir sind seit fast sechs Wochen gefangen, nichts hat sich bewegt. David braucht medizinische Hilfe, und irgendwo in Islamabad oder Bern sitzt jemand an seinem Schreibtisch, überlegt, ob er einen Anruf tätigen soll, ob er die Erlaubnis seines Vorgesetzten einholen muss, ob es für seine Karriere förderlicher ist zu handeln oder zu warten … Ich schreibe eine E-Mail, die der Übersetzer umgehend abschicken soll. Noch heute soll der Chef kommen und sich ein Bild von der Situation machen.
Dann bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten. Es ist zu heiß zum Laufen, und David ist zu erschöpft, um mit mir »Ich sehe was, was du nicht siehst« oder Ähnliches zu spielen. Er will auch nicht sprechen, weder über hier noch über zu Hause.
Nach Einbruch der Dunkelheit geht tatsächlich das Hoftor einen Spalt weit auf, und Nase, der Chef, wischt herein. Er ist nervös, lauscht immer wieder in die Nacht. Er könne im Moment keine Mails weiterleiten, sagt er, aber er werde seinem Mittelsmann die Nachricht von der Erkrankung zukommen lassen, damit die Schweiz sofort ins Bild gesetzt wird.
Ich bin enttäuscht. Niemals gibt es klare Aussagen. Immer sind Mittelsmänner, Unwägbarkeiten in die Ereigniskette eingebaut. Die Zustellung einer Nachricht dauert acht Tage, dann braucht die Antwort wieder acht Tage. Macht einen halben Monat. Einen halben Monat, um eine unbedeutende Information, einen ersten formalen Schritt in einer Verhandlung zu tätigen, und meistens wird auch der nicht vollzogen.
Als Nase meine Stimmung spürt, sagt er, wir dürften am Folgetag wieder in den komfortableren Hof zurück. Er geht, und dafür kommt der Strom, zum ersten Mal seit sieben Tagen. Der Ventilator fängt zu summen an, eine kühle Brise weht
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