Und morgen seid ihr tot
Kopfschmerzen, dass er sich krümmt und vor Verzweiflung weint.
Der Monsun hat eingesetzt, der tägliche Regen ist unberechenbar, hat aber wenigstens für eine gewisse Abkühlung gesorgt. Ali, der Übersetzer, den wir Hans nennen, hatte uns versprochen, er werde nach sieben Tagen wiederkommen. Die sieben Tage sind um, aber Hans kommt nicht. Ich sitze mit David im Hof, starre auf das große Tor, manchmal nähert sich ein Auto – und fährt vorbei. Bei jedem Motorengeräusch steigt unsere Anspannung. Hat das Video Wirkung gezeigt? Sind die Verhandlungen, wie versprochen, zum Abschluss gekommen? Wer wird uns abholen? Ein Taliban-Kämpfer, ein Mittelsmann, gar ein neutraler Botschaftsmitarbeiter? Die immer gleichen Gedanken zermürben uns, aber zu anderen Gedanken sind wir nicht fähig. Wenn das Laufen mich in einen Zustand von Selbstvergessenheit versetzt, fällt manchmal die Last von mir ab. Der Nebel in meinem Kopf löst sich auf, der Druck auf meine Brust lässt nach, und ich fange an zu summen, dann zu singen, wie in einem dunklen Keller, in dem man sich an die eigene Stimme klammert. Melodien fallen mir ein, Textzeilen. Aber wenn ich im Zimmer sitze und an zu Hause denke, werde ich panisch. Ich bin schon nicht mehr sicher, wie die Stimme meiner Mutter klingt, wo die Suppenteller in der Küche meiner Eltern stehen. Jeder kleine Verlust schmerzt, setzt Ängste frei, die wir mit aller Macht klein halten müssen, um nicht aufzugeben. Ich wiederhole die Telefonnummern, zeichne eine Tastatur in mein Tagebuch und tippe wieder und wieder die Anschlüsse meiner Eltern und Freunde ein. Dann imitiere ich den Summton im Hörer, die Stimme meiner Mutter, ich spreche mit ihr, bis ich in Tränen ausbreche und merke, wie armselig mein Selbstbetrug ist. David kommt ein Experiment zur Verhaltensforschung in den Sinn: Man nahm zehn Laborratten und teilte sie in zwei Fünfergruppen. Die eine Gruppe warf man in einen mit Wasser gefüllten Plastikzuber, der so glatte Wände hatte, dass die Ratten nicht hinausklettern konnten. Sie schwammen und kämpften um ihr Leben, bis sie schließlich ertranken. Diesen Todeskampf zeichnete man auf. Dann nahm man die andere Gruppe, warf sie ebenfalls in den Wasserbottich, ließ sie schwimmen, kämpfen, und als sie dem Ertrinken nahe waren, legte man ihnen im letzten Moment einen Holzsteg ins Wasser, über den sie sich retten konnten. Am nächsten Tag wiederholte man das Experiment mit den Ratten, die überlebt hatten, diesmal ohne den Holzsteg. Sie ertranken natürlich. Bei der Auswertung der Videoaufzeichnungen stellte man jedoch fest, dass sie viel länger um ihr Leben geschwommen waren als die fünf Ratten aus dem ersten Versuch, die sich nicht an der Hoffnung festgeklammert hatten, irgendwann könnte, wie durch ein Wunder, ein rettender Steg auftauchen.
Es ist einundzwanzig Uhr. Wenn Besuch für uns kommt, dann kommt er jetzt. Stattdessen erscheint Dumbo, dieses übergewichtige, leicht beschränkte Wesen, das im Nachbarhaus wohnt, für Versorgungsaufträge zuständig ist und sich gerne staatsmännisch gibt. Er spricht kein Englisch, macht uns aber mit Händen und Füßen klar, er habe mit dem Amir gesprochen, und dieser Amir habe ihm zugesichert, wir dürften bald nach Hause. Dumbo reißt seine Schweinsäugelchen auf, fuchtelt theatralisch, grinst und versucht, sich bei uns einzuschmeicheln. Er ist nur ein armer Tropf, aber er geht uns trotzdem auf die Nerven.
Plötzlich kracht es draußen im Hof, doch es ist keine Granate, die detoniert, nur ein Donnerschlag. Statt des sanften Monsunregens setzt ein Gewitter ein. Es blitzt und donnert, und dann geht das Hoftor auf. Ein Wagen rollt herein. Darin sitzt nicht Hans, der Übersetzer, sondern Nazarjan, wieder in Begleitung von Wali-ur Rehman. Unsere Bewacher haben uns immer wieder gesagt, wir würden ihn nie wiedersehen, es sei schon ein Wunder gewesen, dass er sich überhaupt bei uns gezeigt habe. Nun ist dieses Wunder also zum zweiten Mal wahr geworden. Sogar ohne Leibgarde. Es muss etwas Entscheidendes vorgefallen sein. Holt er uns ab? Wir haben es immer gewusst, die Schweiz lässt uns nicht im Stich. Wir sind uns immer sicher gewesen, Wali wird sich nicht nehmen lassen, diese Nachricht persönlich zu überbringen. »Er hat alle Fristen eingehalten«, sage ich zu David. Wir schauen einander an und sind uns einig: Alles passt. Es ist der 13. August, fünf Tage hat er gebraucht, um Alles zu klären. Die Drohnen surren, wir hoffen nur, dass Wali
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