Und morgen seid ihr tot
nicht mit einem Sender markiert ist, nicht ausgerechnet heute …
Wali, der alle Wortlücken in seinem gebrochenen Englisch mit »any, any« füllt, redet von einem Video und dreht mit der Hand neben seiner Schläfe an einer imaginären Kurbel. Er deutet auf uns, zeigt uns eine englische Zeitung mit Datum, die wir offensichtlich vor unsere Brust halten sollen. Wir leiten daraus ab, dass ein neues Video gedreht werden soll, mit dem neuerlichen Beweis, dass wir am Leben sind.
Wir werden in einen Raum geführt, die Kamera auf einer Obstkiste platziert. David setzt sich auf den Boden, die Zeitung vor seinem Oberkörper, und ruft, Walis Instruktionen folgend, die Schweizer, die amerikanische und die pakistanische Regierung an. Sie sollen im Tausch mit uns einen Arzt freilassen, dessen Name ebenfalls diktiert wurde. Doch weder Wali noch Nase können die Kamera bedienen. Das Licht ist ungenügend, die Obstkiste zu niedrig, der Bildausschnitt zu groß. Wir helfen, mit weiteren Kisten ein provisorisches Stativ zu errichten und den Zoom richtig einzustellen. Während Nase und Wali wieder hinter die Kamera treten, sagen wir den Text auf. Gleichzeitig fällt unser Blick durch die offene Tür in den Hof. Man hat die Jungs hinausgeschickt, sie sind aber angesichts des hohen Besuches so aufgekratzt, dass sie immer wieder hinter dem Auto hervorlugen und Faxen machen, bis ich grinsen muss. Dieses Lächeln ist auf dem Schwarz-Weiß-Video zu sehen, das noch heute im Internet kursiert.
Während unserer Gefangenschaft dagegen gab es unseren Angehörigen Hoffnung, manche schauten es sich wieder und wieder an, wenn sie endgültig den Mut zu verlieren meinten.
Wali ist mit dem Ergebnis zufrieden, packt die Kamera ein und sagt, das Video gehe noch am nächsten Tag an die Schweizer Botschaft, in einer Woche könnten wir nach Hause. Er verabschiedet sich mit der gewohnten Herzlichkeit, und wir bleiben mit unseren Gedanken und Zweifeln zurück. Wieder wälzen wir in Gedanken jeden Aspekt und versuchen, zu einer jeweils positiven Interpretation zu gelangen. Ein aktueller Lebensbeweis macht durchaus Sinn. Sicher wird die Schweiz kein Geld für tote Geiseln zahlen. Aber wer ist dieser Arzt? Wieso ist er für die Taliban so wichtig? Und wo sitzt er in Haft? Später verstehen wir, dass der Arzt, den sie freipressen wollen, kein Mann, sondern Aafia Siddiqui ist. Sie gilt als Top-Terroristin von Al-Qaida und hat nach ihrer Festnahme durch ein Sonderkommando angeblich versucht, einem der Soldaten eine Waffe zu entreißen und ihn zu erschießen. Für diesen angeblichen Mordversuch wurde sie zu sechsundachtzig Jahren verurteilt, die sie in Guantanamo absitzt.
Wir tragen uns die ganze Nacht und den nächsten Morgen mit Spekulationen. Kurz nach sechs am nächsten Morgen weckt David mich. Er kann nicht mehr schlafen, weil ihm zu vieles ungereimt vorkommt. Er glaubt nicht an eine zügige Lösung. Wieder analysieren wir jeden Aspekt, versuchen Hirngespinste von sicheren Fakten zu scheiden, verlieren uns in Spekulationen, bis wir zu der für uns erfreulichen Perspektive kommen, dass die Freilassung wohl unmittelbar bevorsteht. David, dessen Einschätzung oft viel realistischer ist als meine, behält seine Zweifel für sich.
Wieder vergehen die Tage, ohne dass es sichtbare Fortschritte gibt. Der Priester hat sich inzwischen von uns verabschiedet. Er kämpft vermutlich jetzt in Afghanistan an der Front. Dafür kommt eines Tages Babila, den wir »Pumba« nennen werden, in den Hof spaziert, eine Pistole um den Zeigefinger kreisen lassend. Er bildet nun mit Locke, Guildo und Depp das neue Bewacherteam. Abends schaut der feiste Dumbo für eine knappe Stunde im Hof vorbei. Wir gewöhnen uns allmählich an die Schüsse und Explosionen, die man mal näher, mal ferner hört. Auch an die große Spinne und den Gecko, die mir in der Dusche Gesellschaft leisten. Nur die Drohnen verlieren ihre bedrohliche Macht nicht.
Es vergeht noch eine Woche. Wieder hat eine Ankündigung keine Entsprechung in der Realität gefunden. Die Westler haben die Uhren, wir haben die Zeit, lautet ein einheimisches Sprichwort, das ein Taliban-Kommandeur angesichts einer feindlichen Invasion geprägt hat.
Am Sonntag errichtet das Militär meist Straßensperren: Wir hassen den Sonntag mehr als alle anderen Tage, weil dann eine deprimierende Stille herrscht und weil niemand zu uns kommen wird. Außerdem ist der Kontrast zu den Sonntagen in der Schweiz so groß, zu meinem Lieblingstag, den ich
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