Und morgen seid ihr tot
Geiseln, die dem Wahnsinn nahe sind, außerdem zwei Kriegsversehrte (Depp und Stiller Hase) sowie drei Kranke (Nase, Guildo Horn und Gollum). Unsere Bewacher sind so mit sich und ihren Malaisen beschäftigt, dass wir zum ersten Mal konkreter an Flucht denken.
David entgeht keine der Waffen, die unbeaufsichtigt herumliegen. Für ihn sind sie, wie ich später erfahren sollte, eine ständige Versuchung. Immer wieder spielen sich Bilder in seinem Kopf ab, wie er eine Kalaschnikow an sich reißt, durchlädt und alle Umstehenden erschießt. Dank seiner Polizeiausbildung hätte er dies ohne besondere Schwierigkeiten geschafft. Vor allem im engen Innenhof, direkt am Basar, wäre die Knallerei im allgemeinen Lärm untergegangen. Aber dann?
Hinaus ins Freie, in Tücher gehüllt? Mitten hinein ins Herz des Talibanlandes, das voller Kämpfer und Informanten ist?
Und selbst wenn wir aus Miranshah hinauskämen – wie weiter? Wir könnten uns tagsüber verstecken und nachts Richtung Südosten marschieren. Aber wie weit?
Während wir die uns verbleibende Energie auf Bissu und die Katzen konzentrieren, lenken die Bewacher sich weiter mit den immer gleichen Propagandavideos ab, in denen sich Selbstmordattentäter in die Luft sprengen oder Taliban mit stumpfen Messern die Köpfe von feindlichen Soldaten abschneiden. Die Detonationen und Schusswechsel in den Aufnahmen hallen laut durch den Innenhof und bringen uns um den Schlaf, wenn wir nicht zuvor schon von einer in der Nähe des Basars detonierten Granate oder einer MG -Salve geweckt worden sind. Der Krieg scheint immer näher zu kommen. Hillary Clinton ist in Islamabad und fordert ein härteres Vorgehen gegen Nord-Waziristan, schreibt die Zeitung.
Der Stille Hase berichtet, dass er gerade aus einem pakistanischen Gefängnis entlassen worden sei. Als er erzählt, man habe ihn bei einer Razzia in Miranshah verhaftet, stockt uns einen Moment der Atem. Also gibt es doch die Hoffnung, dass Militär oder Grenztruppen vom Frontier Corps hier eingreifen.
Sie hatten ihn acht Monate lang in einem Geheimgefängnis festgehalten, erzählt Stiller Hase weiter, in totaler Finsternis, mit auf den Rücken gefesselten Händen. Keine Verhandlung, keine Anklage, kein Kontakt zu Angehörigen. Nur regelmäßige Prügel. Kein Wunder, dass er ein merkwürdiges Sozialverhalten an den Tag legt. Fast schäme ich mich dafür, dass ich mich über unser Schicksal beklage.
Nazarjan habe ihn freigepresst, schließt er, indem er drei pakistanische Soldaten entführt habe. Als Guildo Horn anfügt, Stiller Hase habe an der Front die Feinde enthauptet, verfliegt mein Mitleid wieder.
Seitdem wir im ersten Innenhof festgesetzt wurden, schreibe ich Tagebuch. Seit Beginn des Monats trage ich in die Notizbücher auch die ersten Tage unserer Entführung nach, über die wir lange nicht sprechen wollten. Wann immer ich die Kraft finde, schreibe ich sämtliche Details auf, an die wir uns erinnern. Wir sind erstaunt, wie deutlich sich jeder Moment der Verschleppung in unser Gedächtnis eingebrannt hat. Fast täglich schreibe ich außerdem Briefe in mein Tagebuch, an meine Eltern, an meine Geschwister, an Freunde. »Meine Mama, vier Tage sind vergangen, seit ich Dich gehört habe. So oft habe ich in Gedanken mit Dir gesprochen oder bin in meiner Vorstellung mit Dir im Wald auf dem Höhenweg. Ich denke an Dich! Immer!!! Halt mich fest, sprich mit dem Mond, er ist unser gemeinsames Dach, Deine Tochter.«
Als ich eines Tages die Enge der Mauern nicht mehr ertragen kann, flehe ich Guildo Horn an, mich einmal durch die Einschusslöcher am großen Holztor schauen zu lassen. Er gestattet es, und ich gehe mit klopfendem Herzen durch den Tunnel auf das Eingangstor zu. Ich sehe eine enge Straße voller Schlaglöcher, von der eine treppenförmige Gasse abgeht. Elf Autos fahren vorbei, acht davon Toyotas. Niemand ist vermummt oder bewaffnet, aber die Menschen machen trotzdem keinen unbeschwerten Eindruck auf mich. Alles ist beige oder braun, so wie das Gewand des etwa fünfjährigen Jungen, der auf mich zurennt. Dann kommt eine Frau, unter einer Burka, sie geht direkt am Tor vorbei, ich meine, den Luftzug durch die Löcher zu spüren, ihre Schritte verhallen allmählich. Die erste Frau seit Monaten. Sie war mir so nah – und hat mich nicht wahrgenommen.
Am 24. Oktober kommt Depp vom Basar zurück und erzählt, er habe Hans gesprochen. Dieser würde sich am Abend mit uns treffen. Zwei Monate haben wir Hans nicht gesehen. Den
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