Und morgen seid ihr tot
vorliegt? Was glauben sie denn, wie viel sie noch für zwei lumpige Schweizer Touristen herausholen können? Und das alles auf unserem Rücken, während wir in ihrem verdreckten Innenhof verrückt werden, an Malaria oder irgendeinem Querschläger verrecken?
David, wie immer diplomatischer und vernünftiger als ich, unterbricht mich und fragt nüchtern: »Welches Angebot wäre für euch denn akzeptabel?«
»Hundert Gefangene wären ein guter Deal, aber auch mit sechzig würden wir uns zufriedengeben.«
»Ja, dann nehmt doch die sechzig Gefangenen, die Zardari geboten hat, plus die insgesamt 3 350 000 Dollar«, rufen wir gleichzeitig. »Worauf wartet ihr noch?«
»Wir wollen sehen, wo bei Pakistan die Schmerzgrenze liegt«, erwidert Hans.
Wie lang mag es dauern, diese Schmerzgrenze auszuloten? Er redet weiter, am nächsten oder übernächsten Tag werde das Video per App an die Medien gehen. Damit sei eine weltweite Verbreitung gesichert. Die Digitaluhr am Armaturenbrett zeigt 21.29 Uhr an. Ich höre nicht mehr zu. Die Taliban wissen, je verzweifelter unsere Lage, desto großzügiger das Angebot aus der Schweiz. Je länger wir gefangen sind, desto mehr Gefangene werden im Austausch geboten werden. Die Zeit arbeitet für sie. Man hat uns also monatelang belogen. Nicht die schwierige Kommunikation war schuld an den Verzögerungen – die Verzögerungen sind Teil der Taliban-Taktik, wahrscheinlich der wichtigste Teil. Wir haben die Uhren, sie haben die Zeit.
Hans will uns aufmuntern und bietet uns eine Tasse Tee an. Nase sagt zu Hans: »Ich gebe dir sechs Minuten«, dann blickt er mich an und meint grinsend: »Das habe ich von dir gelernt, diese präzise Zeiteinteilung. Du fragst mich am Ende eines Besuches auch immer, wann genau ich wiederkommen werde.«
Hans geht davon, um den Tee zu bereiten, Nase steigt aus dem Auto, um draußen zu beten. Gollum kommt herein, fragt, wie das Gespräch war. Er ist ein recht zugänglicher Bursche, hat einige Jahre Schulbildung hinter sich, stammt aus einer anderen Gegend Pakistans und leidet oft unter Heimweh, aber jetzt geht er uns auf die Nerven, weil er die Jammermusik der Taliban andreht. Nach elf Minuten bringt Hans den Tee. Sie setzen sich draußen auf den Boden. Uns werden die Tassen durchs Fenster gereicht, denn wir dürfen den Wagen nicht verlassen, weil man uns im Scheinwerferlicht der vorbeirollenden Lastwagen sehen könnte. Der Tee mit der süßlichen Milch, die kühle Nachtluft und die weite Landschaft tun gut. Ich nippe an dem heißen Glas, schließe die Augen und versuche zu vergessen, was ich eben gehört habe: dass es keine verlässliche Perspektive gibt.
Wir fragen Hans, ob er uns nicht Bücher bringen könne. Er verspricht stattdessen Filme und Reportagen auf einem USB -Stick, die wir auf dem DVD -Player der Bewacher ansehen könnten. In acht bis zehn Tagen komme er, um uns die Antwort der Pakistani mitzuteilen. Wir lachen bitter. Wer’s glaubt … Andernfalls schreibe er einen Brief. Warum er so beschäftigt gewesen sei, fragen wir. Seine siebzehnjährige Tochter habe geheiratet, das sei so ähnlich, als wäre sie gestorben. In Pakistan ist es Brauch, dass die Braut zur Familie des Mannes zieht und dort vollkommen in den Hausstand eingebunden wird, bis zum Tod.
Hans verabschiedet sich, Pumba steigt wieder zu, und Nase fährt los. Er wählt die üblichen Nebenstrecken und Ablenkungsmanöver, rast bis zum Holztor, setzt uns ab, verabschiedet sich und sagt lachend, in einem Monat komme er wieder. Wie immer antworte ich: »Bitte, bitte, Switzerland …«
Wie immer erwidert er: »Inschallah!«
Meine Lieblingsjahreszeit ist der Herbst. Ich mag die warmen Gelb- und Rottöne der Laubwälder, den würzigen Geruch, den sanften Nebelschleier, den die Wiesen sich zur Dämmerung anlegen. Wenn mich das fallende Laub in meiner Kindheit traurig stimmte, sagte mein Vater: »Sie stirbt nicht, die Natur, sie holt sich neue Kraft für den nächsten Frühling.« Zwar steht die Sonne kürzer und tiefer im Innenhof, die Nächte werden langsam kalt, und wir können bald nicht mehr im Freien schlafen, aber ein echter Herbst war das nicht, dieses Jahr habe ich das Laub nicht fallen sehen.
Zum Glück kommt Locke früher als angekündigt zurück, erkundigt sich, wie es uns ergangen sei, und erzählt von seiner Familie. Die Armee habe das Zeltdorf angegriffen, einen Mann niedergeschossen. Er bringe seine Familie mit seinem Talibanbart in Gefahr und bleibe besser bei uns
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