Und morgen seid ihr tot
Schlimmer könne es nicht mehr kommen? Das Gefühl von Verzweiflung, Leere und Hoffnungslosigkeit könne intensiver nicht sein? Jedes Mal wurde ich eines Besseren belehrt. In drei Monaten ist der 27. Dezember, Weihnachten vorbei. Das Fest, das ich immer mit meinen Eltern gefeiert habe, immer, selbst als ich im Hotel in Zermatt arbeitete oder bei der Polizei in Bern. Ich rieche das heiße Kerzenwachs, den Duft der Tannennadeln, höre die Melodien, die mich im Innersten berühren und mir den allumfassenden Sinn wiedergeben, die Geborgenheit in der Familie, in unseren Ritualen, unserer jahrtausendelangen Tradition. Einer Tradition, von dem hier im Innenhof keiner eine Ahnung hat. Und hier in diesem Innenhof soll ich an Heiligabend sitzen, den Geschmack von Staub und Erde im Mund, hungrig, verängstigt, umgeben von drei oder vier bewaffneten Jailern, die ihren Überdruss und ihre Aggressionen nicht mehr zügeln können? Vielleicht sind wir bis dahin beide an Malaria erkrankt, womöglich ist nur noch einer von uns beiden übrig, der andere von einem Querschläger oder einer Granate getroffen …
Die Geräusche und Bilder rücken von mir ab, ich ziehe mich in eine durchsichtige Blase zurück und kann nicht einmal mehr weinen. Da geht die Tür auf, und ich erkenne durch den Schleier, dass die Jungs auf der Schwelle stehen. Alle fünf. Sie blicken uns an, und wir erkennen, warum sie es gewagt haben, die Besprechung mit ihrem Chef zu stören. Dumbo tritt vor und überreicht David mit feierlicher Geste ein Tier, an dem eine Leine herabhängt. Ich denke im ersten Moment an eine unserer Katzen. Aber das Fell ist rot, hennafarben. »Bissu«, sagen die Bewacher, »ein Geschenk von Junkie.« »Bissu« bedeutet »Affe«, und tatsächlich schaut uns aus listigen Augen ein Äffchen an.
Wir haben Mühe, diese Menschen zu verstehen. Sie haben einen anderen Begriff von Zeit, vom Wert des menschlichen Lebens, von Bildung, Freiheit, Glück. Manchmal denken wir, sie haben diese Begriffe gar nicht. Aber sie spüren auf unterschwellige Art, in welcher Stimmung wir uns befinden. Sie scheinen keinerlei Empathie zu kennen, und dann wieder reagieren sie wie Seismografen auf unsere Einbrüche, und offensichtlich ist Junkie, dem Mann, der dafür verantwortlich ist, dass wir in Geiselhaft sitzen, der uns sein M16 an den Kopf gehalten, der uns geschlagen und gewürgt hat, zu Ohren gekommen, dass wir mit unseren Kräften am Ende sind. Hat er Mitleid, oder will er nur seine Beute nicht verlieren, will er aus Eigennutz verhindern, dass wir eingehen wie Primeln in trockener Erde? Vielleicht hat ihm jemand erzählt, dass die Katzenfamilie uns wieder Leben eingehaucht hat. Und so hat Junkie irgendwo in den Wäldern einer Affenmutter ihr Junges entrissen, hat es zur Gefangenschaft verurteilt, um andere Gefangene am Leben zu erhalten … Wie auch immer, wir haben jetzt einen kleinen Privatzoo: vier Katzen und einen Affen.
Als der Tag sich dem Ende zuneigt, wartet selbst Nilpe noch mit einer Überraschung auf: ein Brief von Hans. Als hätten sich alle abgesprochen, um uns einen unvergesslichen Tag zu bescheren. Seit siebenunddreißig Tagen lässt Hans auf sich warten. Im Brief schreibt er, etwas Wichtiges sei passiert. Was das ist, erklärt er nicht. Er sei sehr beschäftigt, werde aber in ein paar Tagen kommen. Wir würden sicher zurück in die Schweiz gelangen und sollten unterdessen versuchen, glücklich zu sein. Also kennen sie doch dieses Wort: Glück.
Aber einen Begriff davon können sie nicht haben, jedenfalls nicht unseren.
Bissu, unser Rhesusaffe, wird zum Brennpunkt der Konflikte im Hof. David liebt und bewundert er als sein Alphamännchen, während das Verhältnis zu mir nicht frei von Spannungen ist. Nur wenn wir ihn lausen und gemeinsam am Bauch kraulen, entspannt er sich so weit, dass er regelmäßig einschläft. Sobald er wach ist, schießt er im Hof umher, seinen Äuglein scheint nichts zu entgehen, ebenso wenig wie seinen Zähnen. Wir basteln ihm eine Rassel und Spielgeräte aus leeren Plastikflaschen, aber natürlich genügt ihm das nicht als Abwechslung, er untersucht jeden Gegenstand und jedes Lebewesen, deren er im Hof habhaft werden kann. Würde er kein Halsband mit Leine tragen, wäre er wohl nur auf den Dächern und Bäumen unterwegs.
Einem ersten Mordanschlag entgeht er schon am Tag seiner Ankunft. Guildo Horn wacht nicht nur eifersüchtig über seine Guaven, er hat auch ein Mangobäumchen gesetzt und schon zu einer Höhe
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