Und morgen seid ihr tot
von dreißig Zentimetern gezogen. Bissu würdigt die Pflanze, aber auf seine Weise. Er biegt die elastischen Äste hin und her und fängt an, Blätter und Rinde abzuknabbern. Als Guildo Horn das sieht, rennt er mit einem Holzknüppel los. David muss dazwischengehen und versichern, dass er Bissu fortan von dem Setzling fernhalten wird. Doch schon ein paar Stunden später ist Bissu wieder in Lebensgefahr. Nilpe hat sich die Leine gegriffen und schwingt den Affen wie einen Hammer beim Hammerwurf herum, wodurch er Bissu die Luft abdrückt. Das ist selbst für den diplomatischen David zu viel. Ausgerechnet Nilpe, der uns seit Wochen piesackt. Der aufgeblasene Heuchler. Des Doktors Warnung, niemals gegen die Paschtunen die Stimme zu erheben, ist vergessen, David brüllt Nilpe auf Berndeutsch an, spart nicht mit Kraftausdrücken und Drohungen. Glücklicherweise versteht Nilpe kein Berndeutsch, aber er begreift die Botschaft. Die Situation ist typisch für David. In all den Monaten ist er nur drei, vier Mal aus der Haut gefahren, hat die antrainierte Selbstkontrolle aufgegeben; meistens ging es dabei nicht um ihn, sondern um jemand anderen. Um den Doktor, um das Äffchen, und einige Zeit später, viel später, als wir uns je erträumt hätten, wird es um Dumbos Frau gehen. Nilpe genießt bei seinen Kameraden kein allzu hohes Ansehen, er gilt als aufgeblasene Nervensäge, und so schlägt sich sogar Guildo Horn auf Davids Seite. Falls uns das Leben im Innenhof bisher zu eintönig war – Bissu sorgt für Abhilfe. Es gibt Gefechte und Melodramen im Stundentakt. Als ich meine Runden laufen will und dabei zwangsläufig seine Reviergrenzen verletze, springt mir das Tier an die Beine und verbeißt sich in eine Wade. Sein Maul ist nicht besonders groß, aber seine Zähne scharf und schmerzhaft. Der Innenhof ist so eng, dass ich zwangsläufig Bissus Revier durchqueren muss. David meint, ich müsste lernen, ihn abzuwehren.
Einmal werden wir mitten in der Nacht von Guildo Horn und Locke geweckt. Bissu liegt röchelnd auf dem Rücken und zuckt hilflos, mit aufgerissenen Augen. Irgendwer hat das Halsband so stramm gezogen, dass es das Tier stranguliert. Für uns kommt nur ein Täter infrage. Derselbe, der am nächsten Tag mit dem Gewehr auf den Affen anlegt und diesmal von Locke in die Schranken gewiesen wird. Locke, der stille, fast ein wenig unterkühlt wirkende Einzelgänger, brüllt mindestens drei Minuten lang auf Nilpe ein, der sich, soweit wir verstehen, damit herausreden will, es sei ein Witz gewesen.
Zwar verwandelt Bissu den Innenhof in ein Tollhaus, aber die Konflikte sorgen dafür, dass alle ihren Emotionen etwas mehr freien Lauf lassen und dass die Machtverhältnisse sich verschieben. Guildo Horn und Locke stehen auf unserer Seite, Nilpe ist isoliert, trotz seiner Versuche, sich wieder einzuschmeicheln. Am Ende wird Nilpe gar in seiner Funktion als Chefeinkäufer ab- und Locke eingesetzt. Als Nilpe das nicht hinnehmen will, kommt es zum Showdown. Guildo Horn stellt sich breitbeinig in den Hof, bläht die Brust, reckt seine einhundertsechzig Zentimeter in den Himmel und sagt dem deutlich größeren Nilpe, er sei abgesetzt. Ob er das nicht begriffen habe. Nilpe knickt ein.
Für uns ist Lockes Beförderung ein Glücksfall. Irgendwie schafft er es fast immer, die Einkaufsliste abzuarbeiten. Wenn unsere knappe Barschaft ausreicht, bestellen wir, auf heimlichen Wunsch unserer Bewacher, eine Flasche Mountain Dew, welche beim gemeinsamen Abendessen feierlich geöffnet wird. Da unsere Jailer über alle Ausgaben Buch führen und sich vor Nase verantworten müssen, wird dieser Posten in der Abrechnung kaschiert, die aufgrund der Rechendefizite unserer Bewacher aber ohnehin nie ganz schlüssig ist. Auch um englischsprachige Zeitungen, unsere einzige Verbindung zur Außenwelt, kümmert Locke sich. Wir lesen zu unserem Erstaunen, dass Präsident Asif Ali Zardari einen internationalen Tourismustag anberaumt habe, um ausländische Reisende in alle Regionen des Landes zu locken. In einer dieser Regionen wurden wir gekidnappt, in einer anderen sitzen wir seit Monaten in Geiselhaft. Wir fragen uns, wie gut Präsident Zardari sein Land kennt.
Der Monat September endet damit, dass rote Leuchtraketen über den Basar fliegen. Locke schaltet den Funk ein und erfährt, dass man die Freilassung eines Taliban aus einem afghanischen Gefängnis feiert. Ist das womöglich der Erste der geforderten Mudschahedin? Wird endlich das letzte Kapitel dieser
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