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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Geschichte geschrieben?
    Es beginnt ein neuer Monat, der letzte, wie wir meinen. Doch auf die Freilassung des Taliban folgt die Nachricht, man habe einen seiner Mitstreiter in einem pakistanischen Gefängnis erschossen.
    Davids Zustand verschlechtert sich plötzlich wieder dramatisch. Er bekommt Schüttelfrost, Bauchkrämpfe, Gliederschmerzen. Auch die Durchblutungsstörungen in seinem Bein, wohl durch Rücken- oder Bandscheibenprobleme ausgelöst, nehmen zu. Ich weiß nicht, ob die Fieberschübe vom soundsovielten Magen-Darm-Infekt oder von der Malaria herrühren, aber David beginnt zu delirieren. Er liege zu Hause auf dem Sofa, unter dem Daunenbett, sagt er zu mir, in der einen Hand die Fernbedienung, in der anderen eine Tasse dampfenden Tee. Im Ofen knistere das Feuer, die Kerzen erfüllten den Dachstuhl mit duftender Wärme. Wir schauen einen Film, ich schlafe ein, wie immer, während der Mond hereinscheint.
    Unglaublich, wie sich die Psyche vor der grausamen Realität zu retten weiß. Aber irgendwann fährt David hoch, und das Erwachen ist umso grausamer.
    Auch ich habe Durchfall, aber ich deliriere nicht. Meine Träume sind prosaischer, drehen sich meist um Schokolade und Pommes frites, einen Umluftherd und eine Waschmaschine, während durch die Wand das Palaver in einer uns unverständlichen Sprache dringt, das Spucken in die Blechnäpfe und der überlaute Ton des DVD -Players.
    Als Nase uns am 10.   Oktober triumphierend ein Geschenk überreicht, schwant uns nichts Gutes. Wieder ein Trostpflaster für eine schlechte Nachricht? Doch er hat keine schlechten Nachrichten mitgebracht, nur ein riesiges Fresspaket, das letztlich doch eine schlechte Nachricht impliziert: Die Vorräte dienen für einen langen Aufenthalt.
    Unsere Bewacher kommen und gehen unterdessen. Ein zurückhaltender junger Bursche tritt seinen Dienst an, der von uns den Spitznamen »Stiller Hase« bekommt. Außerdem ein großer, langhaariger Mann mit schiefen Zähnen, der zu den aufdringlichen Prahlern gehört. Bei einem seiner Besuche bringt Nase auch seinen Neffen Depp zurück. Dieser schleppt sich auf Krücken durch den Hof und zeigt seine Röntgenbilder herum. Man sieht Granatsplitter im Bein sowie einen Steckschuss aus einem Maschinengewehr. Einstweilen kann er nur noch in Hürdenläuferstellung beten. Allerdings setzt er eine derart wehleidige Miene auf und verfällt in seiner Versehrten-Gebetshaltung in eine solche Theatralik, dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann.
    Immer wenn uns ein Bewacher für zwei bis drei Wochen verlässt, dann sagen wir ihm innerlich auf Nimmerwiedersehen. Nicht so am 18.   Oktober. Da steht Locke mit bedrückter Miene vor uns und fragt, ob es in Ordnung sei, wenn er eine Weile fortgehe. Nase habe ihm Urlaub gegeben, er wolle zu seiner Familie, für acht Tage. Er hat eine Frau und vier Kinder. Wir sind schwach und krank und haben kaum Energie, aber wir sind tief bewegt. Locke hat mit David tagelang alte Schlafsäcke zerpflückt, die Watte gewaschen und in der Sonne getrocknet, weil er seinen Kindern, die in ihrem Zelt unter dem nahenden Winter zu leiden haben, Steppdecken nähen will. Und er fragt uns, ob er zu ihnen gehen darf, macht sich Sorgen um uns? Ich weine und denke an die vielen Gefälligkeiten, mit denen er uns seine Solidarität signalisiert hat, mit den englischen Zeitungen, den Trauben, die er auf dem Markt organisiert hat, dem Zwiebel-Chili-Rührei, das er mit viel Hingabe für uns gekocht und dessen Rezeptur er David beigebracht hat.
    Während einer Nachtwache hat er einmal neben uns auf der Gummimatte gelegen, flankiert von seiner Kalaschnikow, mit dem selbst bestickten bunten Gewehrriemen, der ein Markenzeichen der Taliban ist. Er hat von seinem kleinen Haus in den Bergen von Süd-Waziristan erzählt, wo er friedlich mit seiner Familie gelebt habe, nach den Regeln von Allah, dem Allmächtigen, und Mohammed, dessen Propheten. Der Krieg sei gekommen, seine Familie sei in einem der zahlreichen Flüchtlingslager interniert worden, wo es an Decken fehle. Der Winter sei kalt in den Bergen. Er liebe den Krieg nicht, und er liebe die Taliban nicht, aber die Taliban würden helfen, z.   B. mit warmen Sachen und Medikamenten.
    Wenn er Commander wäre, dürften wir nach Hause.
    Wir verabschieden uns, tauschen einen Blick, haben Tränen in den Augen, dann legt er seine Munitionsweste an, nimmt seine Kalaschnikow, nickt und geht.
    Er hinterlässt ein Gefühl der Leere in dem Innenhof sowie zwei

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