Und morgen seid ihr tot
Gestalt grüßt freundlich. Die Stimme ist uns vertraut: Nase. Nach fünf Tagen hatte er wiederkommen wollen, zwei Wochen sind es geworden. Unsere Freude ist trotzdem groß. Nase bringt eine große Tüte mit Äpfeln, Mandarinen und Granatäpfeln mit. Außerdem Pumba und den zweiten Assistenten Hamza. Nase macht es sich bequem und stellt eine Menge Fragen. Wir haben das Gefühl, dass er keine Neuigkeiten hat. Doch dann schickt er die Kinder und seine Begleiter aus dem Zimmer und fängt an, etwas zu erklären, was wir nicht verstehen. Er nimmt Stift und Papier zu Hilfe, und allmählich ergeben sich klare Aussagen. Meine Eltern seien in Dubai und kämen morgen nach Islamabad. Zardari habe einhundert Mudschahedin geboten. Ich sehe Nases elegante Lederslippers und die Socken in passender Farbe. Seine Miene ist sachlich, als sei die Nachricht selbstverständlich. In meinem Kopf hallen die Worte nach, die ich nicht glauben kann. David lässt sich alles noch einmal bestätigen. Wir haben richtig verstanden. Meine Eltern kommen, die hundert Gefangenen sind bewilligt. David springt vom Bett auf und umarmt Nase, ich tue es ihm nach. Heute Morgen hatten wir noch die Hoffnung aufgeben wollen, und jetzt das! Nase erklärt die Details. Man habe sich geeinigt. Fünfundachtzig Mudschahedin würden von der pakistanischen Regierung ausgewählt, die restlichen fünfzehn dürften die Taliban bestimmen. Die Antwort sei heute per Kurier eingegangen, jetzt würden die ersten acht freigelassen, je nach Standort des Gefängnisses werde es etwa zwei, drei Tage dauern, bis sie einträfen. Sobald deren Ankunft bestätigt sei, komme der nächste Schwung. Habe man die Zahl Fünfzig erreicht, würde man uns im Tausch mit den letzten fünfzig Gefangenen und dem Geld freilassen.
»Was heißt das genau? Wann können wir nach Hause?«, frage ich.
»Genau weiß ich es nicht.«
»Aber vor dem 24. Dezember?«
Nase nickt: »Sicher.«
Weihnachten. Zu Hause, wie früher. Die selbst gebackenen Kekse auf dem Tisch, der Adventskranz, ebenfalls selbst gebastelt, die Rottanne, die mein Vater beim Bauern gekauft hat.
Ich denke an die Geschenke, die meine Mutter immer an derselben Stelle im Keller versteckt, ein Versteck, das ich schon als Kind entdeckt habe.
Falls wir erst im allerletzten Moment in die Schweiz kommen, dann kann ich wenigstens mit David noch einen Ast aus dem Wald holen und unsere Wohnung schmücken.
»Warum kommen meine Eltern nach Pakistan?«, frage ich.
»Um die Geldübergabe zu regeln.«
Gemeinsam trinken wir einen Tee, und Nase ist so ausgelassen, dass er sich einen seiner Talibanscherze nicht verkneifen kann. Sobald wir zu Hause seien, sollten wir unseren Freunden eine Reise nach Pakistan empfehlen. So viel Geld und so viele Gefangene für Geiseln, das gäbe es sonst nie. Dann fragt er, ob wir nicht lieber doch hierbleiben und uns den Taliban anschließen wollten. Sie würden uns auch ein Haus zur Verfügung stellen. Allerdings könnte er dann nicht mehr mit mir sprechen, da ich ja eine Frau sei. Als ob ich als Geisel keine Frau wäre. Wir können nur insgeheim den Kopf schütteln.
Nase will beten, und wir gehen Runden laufen. Der Schwindel ist weg, die Beine sind locker. Den Zettel, den Nase uns gegeben hat, tragen wir bei uns. »Answer Islamabad« steht darauf. Das Kreuz ist jetzt neben »Yes«.
Es dauert über eine Woche, bis die Nachricht erste Entsprechungen in der Realität findet, eine Woche, in der wir bangend warten, zweifeln, manchmal verzweifeln, weil uns die Kinder immer weniger Respekt entgegenbringen und die Gewalt, die sie am eigenen Leib erfahren, gegen uns richten. Der Höhepunkt ist, dass Dumbos Neffe, nachdem er die geladene Kalaschnikow in unserem Zimmer geputzt hat, den Lauf in meinen Bauch schiebt und »Bumm! Bumm!« schreit.
Unser aller Nerven liegen blank, es ist, als treibe die bevorstehende Trennung alle Konflikte auf die Spitze. Am 10. Dezember wird berichtet, die ersten fünf Mudschahedin seien auf dem Basar eingetroffen und frenetisch bejubelt worden. Am nächsten Tag rastet Dumbo unvermittelt in unserem Zimmer aus, fährt sich mit der Handkante über den Hals und schreit, wenn die anderen Gefangenen nicht einträfen, würden wir umgebracht. Warum ist er so aufgebracht? Hat er Angst, dass wir bald gehen und er seine wichtigste Einnahmequelle verliert?
Auch die Kinder werden immer unbeherrschter. Golab, der siebzehnjährige Junge, den wir wegen seiner abstehenden Ohren »Prinz Charles« nennen,
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