Und morgen seid ihr tot
die Schwägerin Mure diese Aufgabe übernommen, sie ist eine schlechte Köchin und weiß so wenig über Hygieneregeln, dass wir nach jedem Happen von ihr unter Durchfall leiden. Dieser 24. Dezember drückt uns so nieder, dass wir nicht einmal darüber reden wollen, welcher Tag heute ist. Ich bringe auch fast nicht die Kraft zum Schreiben auf, aber als ich das Fladenbrot sehe, das wir seit Monaten täglich essen, wird mir alles zu viel. Seit sechs Monaten Tag für Tag dieser fade, gummiartige Teig. Nase hat uns für Weihnachten ein Huhn versprochen. Er werde es selbst bringen oder durch Dumbo schicken lassen, außerdem eine Flasche Mountain Dew. Am Morgen habe ich Dumbo noch einmal daran erinnert. Wir sitzen auf unserer Pritsche und warten auf das Geräusch von Dumbos Moped. Als er in den Hof rollt, hängt keine Tüte an seinem Lenker. Dann kommt wohl Nase selbst und bringt es mit, denke ich. Nein, sagt Dumbo, Nase komme inschallah morgen, es habe auf dem Markt kein Huhn mehr gegeben. Ich sitze eine Weile resigniert im Zimmer, denke an meine Eltern, an unsere Freunde, daran, dass alle Büros und Behörden geschlossen sind, dass über die Feiertage die Verhandlungen zum Erliegen kommen.
Dann raffe ich mich auf und gehe zu Dumbos Schwägerin und bitte sie, uns etwas zu essen zu geben. Sie schüttelt den Kopf. Ich kann inzwischen gut genug Paschtu, um Reis, Zucker und Milch aufzuzählen. Immer wieder schüttelt sie den Kopf. »Ein Ei? Bitte«, flüstere ich, denn ich weiß, wie viele Eier die Hühner im Hof legen. Allerdings sind diese für die Männer oder zum Verkauf bestimmt. Sie schaut mich mit zusammengekniffenen Lippen an und schickt mich aus dem Zimmer. Offensichtlich will sie ihr Versteck für Lebensmittel nicht preisgeben. Ich betrachte Dumbos Frau, die auf einem Bettgestell liegt und mich mit schmerzverzerrtem Gesicht und dickem Bauch anzulächeln versucht. Ich lächle zurück und verlasse das Zimmer, stehe vor der Tür, starre in den bewölkten Abendhimmel, an dem die Positionslichter eines Fliegers blinken. Wie gerne würde ich da oben einen harmlosen Weihnachtsfilm sehen, »Kevin allein in New York« oder »Der kleine Lord«, einen Orangensaft trinken und den Blick in die unendliche Weite genießen.
Die Frau kommt heraus und fasst unter ihr Kleid. Sie legt ein Ei in meine flache Hand. Ich bin dankbar für dieses eine Ei, denn das andere müssen sie sich zu viert teilen. David gibt sich beim Kochen alle Mühe, aber mehr als einen kümmerlichen Klecks Rührei kann auch er nicht zaubern.
Ich habe den ganzen Tag Weihnachtslieder vor mich hingesummt, gegen Heimweh und Sehnsucht angekämpft. Wir sitzen, eingepackt in mehrere Jacken, Fellmützen und Tücher, an der Feuerstelle, legen das Essen vor uns hin, wünschen einander einen guten Appetit und versuchen, einander mit einem flüchtigen Kontakt der Hände Kraft zu spenden. »Frohe Weihnachten«, sagt David. »Frohe Weihnachten«, antworte ich und versuche, meine Tränen zurückzuhalten.
Dann versuchen wir, uns in den Schlaf zu flüchten, legen uns zeitig hin, aber in der Nacht poltert die ganze Familie durch unser Zimmer, auf dem Hof wird geschrien, das Eisentor scheppert. Wir sind zu schwach, um uns zu erheben. Am nächsten Tag erfahren wir den Grund für das Chaos. Dumbos Frau hat einen Sohn geboren. In der Nacht hatten die Wehen eingesetzt, aber es gab Komplikationen. Da Dumbos Mutter Ade, die Einzige, die als Hebamme Erfahrung hat, nicht da war, wurde die Gebärende in ein Ambulanzzentrum gefahren, auch wenn die Taliban ihren Frauen gewöhnlich untersagen, sich von einem Arzt oder einer Ärztin berühren zu lassen. Wo dieses Ambulanzzentrum liegt, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass das Krankenhaus in Miranshah bei dem Angriff auf den Basar von der pakistanischen Armee gesprengt wurde. Angeblich hatten sich Taliban darin verschanzt.
Der Umgang mit der Wöchnerin und dem Neugeborenen übertrifft alles, was wir bisher an Gefühllosigkeit und Unwissenheit beobachten konnten. Das Baby wird in einen Kokon gewickelt und zwei Wochen lang nicht gewaschen. Die einzige Pflege, die man ihm angedeihen lässt, ist das Schwarzschminken der Augen. Dumbos Frau hat starke Blutungen und wimmert vor Schmerzen, aber niemand kümmert sich um sie. Die Nachgeburt steckt ihre Schwägerin in eine Plastiktüte und vergräbt sie, mit meiner Hilfe, neben dem Bett. Der Boden ist voller Blut, ebenso wie Chobanas Kleider. Das Baby liegt im Brotkorb neben dem Bett, ich streichle
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