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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Die Mauern um uns herum sind mit Zinnen bewehrt, im Mondlicht werfen die Bäume bizarre Schatten. Wir versuchen, uns jedes Detail einzuprägen, spekulieren flüsternd, wo die Moschee liegen könnte, wo der kleine Laden, zu dem Mino immer läuft, wo der Nachbar mit der Wasserpumpe. Wir versuchen, die Armeebasis zu entdecken, vergebens, aber wir meinen, die Himmelsrichtung zu kennen, und werden nachher im Zimmer unseren Lageplan verfeinern.
    Am Morgen des 8.   Februar, unser kleiner Gefängniswärter hat uns gerade die Tür aufgeschlossen, und ich bin in den Hof hinausgetreten, zieht ein gewaltiger Schatten über meinen Kopf hinweg. Eine blitzschnelle Bewegung, als hätte jemand nur schnell mit einem Lappen über den Himmel gewischt. Ich sehe mich instinktiv nach David um, aber er liegt noch im Zimmer, studiert die Muster an der Wand, hängt seinen trüben Gedanken nach. Er hat das laute Zischen auch gehört, aber da folgt auch schon die Detonation, der Boden bebt, Sand rieselt aus dem Mauerwerk. Es muss eine von einer Drohne abgefeuerte Rakete gewesen sein. Die Frauen schreien, und ich renne zu David. »Eine Drohne, ich habe die Rakete gesehen, David!«
    Rauch steigt in den Himmel, keinen Kilometer entfernt.
    Locke hat einmal auf seine besondere trockene Art erzählt, die kleinen Raketen würden auf Autos abgefeuert, es gebe aber auch größere, groß wie ein Baum. Wo diese einschlügen, bleibe kein Stein auf dem anderen. Als er einmal mit Guildo Horn in Miranshah übernachtet habe, sei zwei Häuser weiter eine Drohnenrakete eingeschlagen. Drei usbekische Kämpfer, eine Frau und ein Kind hätten dort geschlafen. Der Knall habe alle augenblicklich auf die Füße geholt, aber niemand habe sich auf die Straße gewagt, weil sie Angst vor einem zweiten Einschlag gehabt hätten, da oft gezielt die Helfer attackiert würden.
    Am nächsten Morgen habe man das eingestürzte Haus abgesucht und das Kind aus den Trümmern geborgen. Es habe als Einziges überlebt, habe fortan aber nur noch geschrien.
    Wir merken, wie froh wir sind, dass es nicht bei uns, sondern da drüben eingeschlagen hat. Als wir in die Gesichter der bunten Innenhofgemeinschaft sehen, scheint sich dort derselbe Gedanke abzuzeichnen. Uns wird klar, warum Empathie in dieser Familie kaum eine Rolle spielt, warum unser Schicksal hier niemandem nahegeht. Alle leben in permanenter Todesangst, die durch unsere Anwesenheit sogar noch erhöht wird. Im Krieg ist Mitleid ein absurder Luxus.
    »Für uns sind zwei Varianten offen«, sage ich zu David, als wir den Qualm über den Dächern aufsteigen sehen. »Der Tod durch Drohnen oder durch die Taliban.«
    Er antwortet nicht. »Oder wir nehmen unsere Rettung selbst in die Hand«, füge ich hinzu.
    Ich schaue ihn an, warte auf seinen üblichen Protest.
    Diesmal bleibt der Protest aus. David erwidert meinen Blick und sagt ganz nüchtern: »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« In Wirklichkeit denkt er inzwischen fast an nichts anderes mehr, aber aus Angst, ich könnte einen unüberlegten Schritt tun und vielleicht mein Leben gefährden, behält er seine Gedanken meist für sich.
    Als wir im Schlafsack liegen und darüber sprechen, wann der günstigste Zeitpunkt für einen Ausbruchsversuch wäre, klopft es. Mino steht in der Tür, gefolgt von Nase.
    Wir haben inzwischen eine gewisse Routine bei diesen Besuchen entwickelt. Nase kommt herein, begrüßt uns herzlich und packt seine Köstlichkeiten aus. Immer strahlt er menschliche Wärme und Souveränität aus. Aber diesmal ist alles anders. Er gibt mir zögerlich die Hand, setzt sich auf mein Bett, fühlt sich sichtlich unwohl.
    »Furchtbar, diese Drohnen«, sagt er. »Ich bin das letzte Stück zu Fuß gekommen.« Er ist erschöpft, scheint mit den Gedanken nicht ganz da zu sein. Hat er nur schnell einen Abstecher vom »Tatort« des Drohnenangriffs gemacht? Hat er eben noch Überlebende getröstet? Die Verlegung anderer Kämpfer organisiert, um sie vor weiteren Attacken zu retten?
    Dumbo wird aus dem Raum geschickt. »Habt ihr einen Brief von Hans bekommen?«, fragt Nase. Wir sind perplex. Woher sollen wir einen Brief von Hans bekommen? Alle wichtigen Briefe überbringt Nase persönlich. Weiß er nicht mehr, was er tut und was er redet?
    David krault sich nervös den Bart.
    »Was gibt es Neues aus Islamabad?«, frage ich.
    »Unsere zwei Mittelsmänner machen widersprüchliche Angaben. Der eine behauptet, dein Vater sei mit fünf Millionen in der Botschaft, der andere sagt,

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