Und morgen seid ihr tot
würde ich am liebsten sagen, aber ich stammle nur: »Ich liebe euch, und sagt auch Tanja, Seraina und Matthias, dass ich sie liebe. Wir sind am Ende, wir sterben hier.«
»Ihr müsst versuchen, stark zu sein.«
Seit sieben Monaten versuchen wir nichts anderes. Aber keines unserer Programme war auf einen solchen Zeitraum ausgelegt. Ich würde meine Mutter gerne beruhigen, aber es ist diese vertraute Stimme, die mir jeden Filter nimmt. Dann höre ich ein Kreischen im Hintergrund, Seraina, meine Schwester, und immer noch meinen Vater. Aus dem Hörer dringt ein Heulen und Weinen.
»Ich muss auflegen, Mama, bitte, holt uns hier raus, sprich mit dem Mond, ich liebe euch«, sage ich. 10’47 min, zeigt das Display an.
»Das war lang«, meint Nase. Ich versuche, die Sache mit dem Schweizer Anwalt zu erklären, dass die notierte Nummer für die Übergabe hilfreich sein könne.
»Haben sie Saleems Nummer aufgeschrieben?«, will er wissen. Alles andere scheint ihn wenig zu kümmern.
»Wollt ihr noch einmal telefonieren?«, fragt Nase.
»Ja, mit Peter, einem guten Freund«, antworten wir.
Nase nickt und lässt sich die Nummer diktieren. Ich weiß nur die Handynummer auswendig, er gibt sie fast bedächtig ein. Es klingelt, Peter geht nicht ran. Ich starre aus dem Seitenfenster und flüstere: »Peter, bitte nimm ab, bitte!« Es ist Samstag, vierzehn Uhr in der Schweiz. Peter lässt sich am Wochenende ungern stören. Und wie soll er auf die Idee kommen, dass ausgerechnet wir am Telefon sind? Nach sieben Monaten Funkstille?
»Kontakt antwortet nicht«, sagt Nase knapp und scheint sich wieder einmal zu amüsieren.
»Warte«, sagen wir leise. Am anderen Ende ist ein Rascheln vernehmbar. Dann hören wir: »Brunner.«
»Peter! Peter!«, sagt David.
»Wer bist du denn? He, ich höre dich ganz schlecht, hallo?«
»Peter, ich bin’s, David. Weißt du noch?«
»Ich verstehe dich nicht. Ich kann dich nicht hören, ich lege jetzt wieder auf.«
Nein, tu’s nicht, denke ich. Ich habe das Gefühl, dass sich das Auto im Kreis dreht. Die Landschaft verschwimmt zu Schlieren.
»Sie haben uns aufgegeben, sie haben uns vergessen«, flüstere ich David zu.
»Peter, ich bin’s, David!«, schreit es neben mir. Dreiundvierzig Sekunden lang hört er uns nicht.
»Daaaviiiid?« Peters Stimme springt in ein hohes Register.
David nimmt den Hörer von dem Apparat, der die ganze Zeit mit der Freisprechanlage betrieben wurde, und presst ihn sich ans Ohr.
»Peter, verstehst du mich?«
»Daaviid, Daaviiiid!«
»Peter, hör mir zu.«
Peter hat jetzt seine Fassung wiedergefunden. Er ist ein bedächtiger Mensch mit einer gesunden Portion Humor. Und mit guten Reflexen.
»David, ich bin klar«, sagt er vollkommen ruhig, »du kannst mir alles durchgeben.«
David liest langsam und deutlich alle Forderungen von dem DIN -A4-Blatt ab. Peter notiert, wiederholt die Nummer, zweimal mit einem Zahlendreher, dann hat er endlich die korrekte Reihenfolge.
»Die Nummer muss innerhalb von drei Tagen kontaktiert werden, sonst sind wir tot. Ruf Danielas Vater an und erklär ihm alles noch einmal.«
»Ist klar, David, ich habe alles notiert.« David scheint unsäglich erleichtert, jemanden am Apparat zu haben, der sich nicht von den Emotionen überwältigen lässt, der Ruhe bewahrt und sich auf die wesentlichen Informationen konzentrieren kann.
»Wir haben so furchtbare Angst, dass sie uns umbringen, Peter. Wir lieben dich so sehr, euch alle …«, David fängt an zu schluchzen und kann nicht mehr artikulieren.
Ich weine ebenfalls. »Lass mich auch noch mal mit ihm sprechen«, bringe ich hervor. »Bitte, bitte, wir wollen hier nicht sterben, Peter!«, sage ich, den Hörer umkrampfend. »Bitte hol uns nach Hause, kämpft für uns.«
»Ja, ich kämpfe, wir leiden alle sehr, wir reden immerzu von euch, wir wollen euch endlich wieder bei uns im Garten haben.«
»Bekommt ihr mit, wie die Verhandlungen stehen? Was sagen die Schweizer Behörden?« Die Frage, die ich mir Tag und Nacht stelle und auf die ich nie eine befriedigende Antwort finde.
»Sie sagen immer, es gehe euch den Umständen entsprechend gut, sie sind dran.«
»Peter, sieben Monate … Wir können nicht mehr.«
»Ist klar, so kann’s nicht weitergehen, völlig klar, Daniela.«
»Bitte sag Muriel, Liv und Fynn, dass wir sie lieben.« Ich schluchze, und die Tränen nehmen mir die Sicht.
»Wo ist Muriel?«, stammle ich.
»Steht neben mir.«
»Gib sie mir bitte mal schnell.«
Muriel,
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