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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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immer wieder aus, wie man uns erschießen wird.
    Am 30.   Januar ist es so weit, die Frist ist abgelaufen. Ein windiger, kalter Tag, an dem wir uns durch unser Training ablenken von den Bildern, die man von uns vielleicht filmen wird, um sie übers Internet zu verbreiten und der Welt klarzumachen, dass man sich mit den Taliban keine Mätzchen erlauben darf. Am Nachmittag kommt Dumbo endlich vom Basar zurück. Er schnaubt und gestikuliert, denn sein Moped ist defekt, und er habe sich eine Mitfahrgelegenheit organisieren müssen, für ihn eine enorme Strapaze.
    Er hat Zahnpasta und Davids Buttertoffees dabei. Er kommt mit uns ins Zimmer, schickt die Kinder hinaus und setzt sich auf mein Bett.
    »Es gibt ein großes Problem«, sagt er. Ich merke, wie das flaue Gefühl, das ich seit einer Woche im Magen habe, durch den ganzen Körper wandert. Ich fange an zu zittern. »Die Schweizer Botschaft hat nie Kontakt mit unserem Unterhändler aufgenommen«, fügt Dumbo hinzu.
    Jeden Tag lernen wir ein bisschen mehr Paschtu, und inzwischen klappt die Kommunikation mit Dumbo praktisch reibungslos. Wir haben ihn nicht falsch verstanden. »Soll das ein Witz sein?«, fragen wir, während ein eisiges Gefühl meine Arme hinaufkriecht und mich an der Kehle fasst.
    Nein, Nases Assistent stehe in permanentem Telefonkontakt mit dem Vermittler der Taliban. Und dieser habe nie eine Anfrage aus Islamabad bekommen.
    Mir wird schlecht. Mein Hirn ist gelähmt, und auch David ist fassungslos. Das ist das Ende für uns.
    Dumbo hebt die Arme und fängt zu rudern an. Er bietet seine gesamten Englischkenntnisse auf: »No problem, no, no, no«, ruft er, »no kill!«
    Er werde Nase aufsuchen und erklären, dass wir noch einmal telefonieren müssen. Er redet ohne Pause auf uns ein, während wir nichts mehr wahrnehmen. Ich versuche, die Bruchstücke des Telefonats aus meinem Gedächtnis hervorzuziehen. Alles ist so undeutlich. »David, habe ich mir das Gespräch nur eingebildet?«, frage ich.
    »Quatsch«, antwortet er, »du hast mit deinem Vater telefoniert. Du hast ihm gesagt, fünf Millionen Dollar in einer Woche.«
    Wir gehen nach draußen und fangen wieder an unsere Runden zu laufen. Wir laufen fünfzig Mal, hundert Mal im Kreis, die Gedanken ziehen dieselben Schleifen, immer wieder: Was hat mein Vater missverstanden? Stellt die Schweizer Botschaft sich quer? Sind wir morgen tot?
    Ich spüre, dass wir in eine Phase eingetreten sind, in der wir auch die letzten Orientierungspunkte verlieren. Meine Wahrnehmungen verändern sich. Wenn ich den schlafenden David neben mir sehe, seine langen, gelockten Haare, seinen Bart, dann kommt er mir wie ein Unbekannter vor. Ebenso fremd wird mir der Körper, an dem ich hinuntersehe. Diese fünfzig oder sechzig Kilo Muskelgewebe, Knochen und Gefäße scheinen nicht mir, sondern einer abgelebten Frau zu gehören. Die Schenkel sind dünn, die Venen auf dem Handrücken verengt, die Knöchel springen spitzer als früher aus dem Fuß hervor. Wache ich morgens auf, dann möchte ich meine Träume nicht mehr erzählen, denn die Erinnerung an die Bilder, das Lächeln meiner Eltern, das Laub, das in der Aare treibt, die Maserung in den Dachbalken unserer Wohnung, die zusammengekniffenen Augen von Fabian, all diese Details sind zu schmerzhaft.
    In einer hiesigen Zeitung wird berichtet, ich sei inzwischen schwanger. Alles wird unwirklicher, rückt von uns ab.
    Als ich eines Tages in das Halbdunkel unseres Zimmers trete, steht dort ein fremder Taliban. Ein Riese in einem schwarzen Sherwani, in schwarzen Hosen und mit vermummtem Gesicht. Er muss sich mein Tuch angeeignet haben, um sein Gesicht zu verstecken. Ich fahre vor Schreck zusammen, als aus dem Tuch ein schallendes Lachen ertönt. David. Man hat ihm neue Kleidung genäht, ganz in Schwarz. Ich fahre ihn an, er soll diesen Unsinn lassen.
    Wenn die Wintersonne von Zeit zu Zeit hinter den Regenwolken hervorkommt, trocknet der Morast im Hof ein wenig, und dann schaufle ich den Eingang zu unserem Zimmer frei. Die Tage werden länger, die ersten Insektenlarven schlüpfen. Wieder neigt sich eine Jahreszeit dem Ende zu. Sommer, Herbst und Winter haben wir in Waziristan schon erlebt. Jetzt kündigt sich der Frühling an. Bald kommen die Mücken und Fliegen zurück, die höllische Hitze. Und Dumbo wird wieder im Freien schlafen und sich an unserer Zimmertür festbinden.
    Einmal gestattet er uns, nach Einbruch der Dunkelheit eine Weile auf dem Flachdach über unserem Zimmer zu sitzen.

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