Und Nachts die Angst
Ecke. Sie kehrt in eine Stadt zurück, die sie besonders liebt, wenn die Palmen weihnachtlich dekoriert sind. Sie beschließt, von nun an netter, umgänglicher zu sein. Sie will ihrer Familie zeigen, dass sie ein herzlicher Mensch sein kann, der sich nicht aus jeder Umarmung herauswindet. Sie wird Einladungen annehmen und auch mal andere Kleidung tragen als Jeans. Sie will versuchen, ganz normal zu werden.
Und was dann? Wirklich noch einmal aufs College? Der Gedanke weckt wenig Begeisterung in ihr, aber vielleicht ist es nicht dumm, zur Abwechslung auf Leute zu hören, die sie gut kennen und denen sie vertraut.
Die Zeit ist wie eine Fahrt auf dem Freeway, findet sie. Ein verschlungener Pfad hinter ihr, ein unbekanntes Band vor ihr, jeder Moment ein bisschen Gummi auf nasser Oberfläche.
Wow, wie tiefsinnig, spottet sie innerlich. Konzentrier dich auf die Tatsachen.
Der Regen wird stärker, der Verkehr dichter, und plötzlich stehen die Autos vor ihr. Sie tritt aufs Bremspedal und hält hinter einem Truck, der ihr die Sicht nach vorne versperrt. Der Motor dreht im Leerlauf. Sie gähnt, rollt mit den Schultern, dann fällt ihr Nick Hudsons CD ins Auge. Sie müht sich mit der Hülle ab, während sie an die Abschiedsszene zurückdenkt. Wie liebevoll er ihr Gesicht berührt hat!
Warum hat sie sich nicht denken können, dass so etwas geschieht? Ist er besonders schwer zu durchschauen gewesen? Oder ist sie in Bezug auf Männer zu ewiger Ahnungslosigkeit verdammt?
Eine Sirene heult in der Ferne und kommt näher, und die Autos beginnen, an den Straßenrand zu rücken. Der Lkw vor ihr schleicht ein Stück voran, bleibt wieder stehen, und ihr Handy klingelt in dem Moment, als die blinkenden Lichter der Ambulanz vorbeirasen. Sie fischt das Telefon aus der Tasche und erkennt die Nummer auf dem Display nicht. Wahrscheinlich verwählt, denkt sie, nimmt aber an.
Eine Männerstimme. »Hallo? Spreche ich mit Reeve LeClaire?«
»Wer sind Sie?«
»Verzeihen Sie, dass ich Sie störe, aber ich bin Earnest Hill, Abby Hills Vater.«
»Ihr Vater? Oh. Wie geht es Abby?«
»Hören Sie, vermutlich ist es viel verlangt, aber wir haben in den Nachrichten gelesen, dass Sie Tilly Cavanaugh geholfen haben, und nun fragen wir uns, ob Sie nicht vielleicht Abby kennenlernen könnten – natürlich nur, wenn es irgendwie in Ihren Zeitplan passt. Tut mir leid, Sie derart zu überfallen, aber könnten Sie mal vorbeikommen? Wäre das wohl möglich?«
»Na ja, eigentlich glaube ich nicht, dass ich die richtige Person dafür bin, Mr. Hill. Abby braucht Hilfe von einem Fachmann wie Dr. Ezra Lerner. Ich kann Ihnen seine …«
»Er ist nicht mehr in der Stadt, wissen Sie? Und die Sache ist die, na ja … meine Frau meint, dass eine andere Frau, die … na ja, die Situation nachvollziehen kann, für unser Kind wahrscheinlich besser ist, jedenfalls jetzt am Anfang. Bitte entschuldigen Sie, dass ich das so freiheraus sage, aber vielleicht werden wir Dr. Lerner sowieso nicht bemühen, weil wir von einer Psychiaterin in LA gehört haben, die phantastisch sein muss. Aber sie kann frühestens in ein paar Tagen herkommen, und bis dahin ist niemand da, und wir haben so viel darüber gehört, wie sehr Sie Tilly geholfen haben. Also, wenn Sie ein klitzekleines bisschen Zeit freischaufeln und einfach mit ihr reden könnten, wären wir Ihnen unfassbar dankbar. Also – könnten Sie? Vielleicht bloß für ein paar Minuten?«
Reeve rückt auf der rechten Spur ein Stückchen vor. »Es tut mir leid, aber ich bin gar nicht mehr in der Stadt. Ich bin bereits auf dem Freeway nach Süden.«
»Oh, ach so. Das ist ja schade …«
Reeve hört bruchstückhaft eine Bemerkung mit, die er jemand anderem gegenüber macht, wahrscheinlich seiner Frau. Dann ist er wieder in der Leitung, und als er fortfährt, klingt seine Stimme flehend. »Können Sie sich nicht vielleicht doch überlegen, umzudrehen? Natürlich bezahlen wir Sie – sagen Sie einfach, was Sie brauchen. Wie weit im Süden sind Sie denn?«
»Na ja, ich …«
»Sehen Sie, wir haben Angst, dass Abby unter einem Schock leidet, Sie wissen schon, posttraumatisch …« Seine Stimme klingt plötzlich erstickt. »Wir lieben sie sehr, meine Frau und ich, aber wir wissen einfach nicht, wie wir mit so einer Situation umgehen sollen.«
Der Jeep kriecht auf eine Hügelkuppe, und sie sieht den hässlichen Stau, der vor ihr liegt, ein rot gepunktetes Band aus Rücklichtern, das sich auf dem nassen Asphalt spiegelt. Sie
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