Und Nachts die Angst
Gespräch versickert, und Reeve verzieht das Gesicht. Small Talk ist einfach nicht ihre Königsdisziplin. Sie beschäftigt ihre Hände damit, Tupperdosen zu füllen und sie im Kühlschrank zu stapeln, während ihr Vater die Spülmaschine einräumt. Als er damit fast fertig ist, fragt er leise: »Und wie geht’s dir, Kleines?«
Sie erstarrt. »Gut.«
Er bringt sie nicht in Verlegenheit, indem er innehält oder ihr einen Blick zuwirft. »Ich hatte gestern Abend auf einen Rückruf gehofft, damit wir ein bisschen reden können.«
Das Thema, dem sie aus dem Weg gegangen sind, fällt wie ein Schatten über sie. »Gestern war kein guter Tag«, sagt sie knapp.
»Na ja, ich kann mir denken, dass diese Geschichte mit Tilly Cava…«
»Nicht nur das«, unterbricht sie ihn. »Ich hab meinen Job verloren.«
»Was?«
Sie spürt, dass sie rot wird.
»Man hat dich entlassen?«
Sie hat nicht vorgehabt, es ihm heute zu erzählen – schließlich ist Thanksgiving, sie sollte zufrieden und dankbar sein –, aber so kann sie das Gespräch wenigstens von den düstereren Themen wegsteuern.
»Sie haben versucht, es mir schonend beizubringen«, sagt sie. »Trotzdem, na ja.«
»Das tut mir leid. Wieso denn?«
»Takami-san, die Besitzerin, hat eine Tochter, und die ist anscheinend von der UCLA geflogen.« Sie dreht sich rasch zur Spüle und beginnt, einen Topf zu schrubben. »Oder vielleicht ist sie auch einfach ausgestiegen, denn ich glaube nicht, dass sie überhaupt Betriebswirtschaft studieren wollte. Jedenfalls ist sie wieder zu Hause und kann im Restaurant helfen, und ich bin raus.« Ihre Stimme droht zu kippen, und sie überspielt es mit einem Husten.
»Wann ist das gewesen?«
»Gestern.«
»Du mochtest die Arbeit, nicht wahr?«
»Tja – ja. Aber eigentlich habe ich wohl nur Keiko ersetzt.«
Ihr Vater legt ihr den Arm um die Schultern und drückt sie, nur kurz allerdings, denn jeder weiß, dass Reeve nicht gerne angefasst wird.
Nach dem Dessert streckt sich die Familie vor dem Fernseher aus, und Reeve zieht sich zurück, um sich im Gästezimmer einen Moment hinzulegen. Als sie an der offenen Tür zum Arbeitszimmer vorbeikommt und das Kinderbett sieht, späht sie hinein, um einen Blick auf das Baby zu werfen. Es schläft. Sie mustert seine weichen, niedlichen Züge und versucht, die grenzenlose Ruhe zu ergründen, die von diesem außergewöhnlich makellosen Wesen ausgeht.
Etwas Buntes auf dem Schreibtisch ihres Vaters lockt sie ein paar Schritte weiter hinein. Eine Geburtstagskarte von Amanda. Sie schaut auf den Text und stellt die Karte schuldbewusst zurück, dann wendet sie sich um, um den Blick über die Bücherregale schweifen zu lassen. Wie immer ist sie fasziniert von der Bandbreite seiner Interessen. Archäologie, Politik, Kunst, Literatur, Medizin und ein ganzes Fach mit Computerbüchern, auf deren Rücken hin und wieder auch Henri LeClaires Name steht. An einer Wand hängen ordentlich arrangiert gerahmte Diplome und Fotos. Auf einem steht ihr Vater neben Bill Gates, und Reeve betrachtet es genauer. Manche Leute behaupten, die beiden hätten eine gewisse Ähnlichkeit, aber Reeve hat das nie so gesehen.
Sie gähnt. Die Couch, die dem Fenster gegenübersteht, sieht gemütlich aus. Sie hat noch nie hier geschlafen, aber die blassblaue Decke, die über einer Lehne drapiert worden ist, kommt ihr wie eine Einladung vor. Sie streicht darüber – so weich – und zieht sie über sich, als sie sich zurücklehnt und ausstreckt. Nur ein paar Minuten.
Sie ist gerade eingedöst, als sie die Stimme ihrer Schwester wahrnimmt. »Er schläft tagsüber wie ein Stein«, flüstert Rachel. »Aber nachts um drei rockt er das Haus.«
»Du und Reeve wart genauso«, erwidert ihr Vater.
Ihre Stimmen sind leise. Reeve liegt versteckt hinter der Sofalehne. Sie schließt die Augen und hofft, dass sie wieder gehen, damit sie weiterdösen kann.
»Ich frage mich, wie Reeve momentan schläft«, fährt ihr Vater fort.
Reeve lächelt.
»Ich auch. Die Nachrichten von diesem neuen Fall müssen sie doch furchtbar aufgewühlt haben.«
Ihr Lächeln verblasst.
»Sie hatte damals so scheußliche Alpträume, weißt du noch?«
»Ich gehe jede Wette ein, dass dieses Mädchen auch schreckliche Alpträume hat.« Eine Pause. »Meinst du, sie bitten Beth um Hilfe, wie bei Reeve?«
»Nein. Ich denke, sie fragen Reeve.«
»Was?«
Reeve ist hellwach, teils fasziniert, teils entsetzt von dem, was sie hört.
»Sie ist näher dran – sowohl
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