Und Nachts die Angst
daran, dass ihre Fälle sich so unheimlich ähnlich sind? Sicher, Reeve war älter als Tilly, als man sie befreit hat, und stärker traumatisiert. Aber es gibt so viele Parallelen. Der Entführer, der im Gefängnis auf seine Anklage wartet. Eine intakte Familie mit älteren Geschwistern. Die sichere Vorstadtexistenz. Sogar ein paar ähnliche Narben.
Reeve gibt den Versuch zu schlafen auf und fährt den Laptop hoch. Sie ruft Bilder von Randy Vanderholt auf und betrachtet sie. Wie verwandelt sich ein Mann vom Autodieb zum Entführer?
Sie stöhnt. Das Böse ist ein Thema, das sie schon viel zu lange beschäftigt. Jahrelang schon. Nach ihrer Befreiung, nach dem Prozess, nach der Krebsdiagnose ihrer Mutter hat sie zahllose Stunden in Krankenhauswartezimmern verbracht. Doch statt sich in literarische Welten zu flüchten, hat sie sich in Fachlektüre verbissen. Studien über Sadisten, Psychopathen, Soziopathen. Theorien über das protoreptilische Hirn, Amoralität und Empathiemangel. Abhandlungen über defekte Genstrukturen und Kindheitstraumata, über Bettnässen und frühe Neigungen zur Tierquälerei.
Trost hat sie in all diesen Texten nicht gefunden. Zu versuchen, die Wahrheit über das Böse im Menschen aufzuspüren, ist, als atme man giftige Dämpfe ein.
Reeves Gedanken wandern zu den vermissten Mädchen.
Hat Vanderholt sie entführt und umgebracht? Oder ist es wahrscheinlicher, dass es da draußen andere Schweine mit einem ähnlichen Verhaltensmuster gibt?
Sie steigt aus dem Bett, sucht die Fernbedienung, schaltet den Fernseher ein und zappt durch die Kanäle, bis sie einen lokalen Nachrichtensender gefunden hat. Eine windzerzauste Reporterin steht vor einem niedrigen Zaun, hinter den sich ein düsteres Haus duckt. Ihr Gesicht hebt sich davor weiß ab. »In diesem kleinen Haus an der Redrock Road ist Tilly Cavanaugh zuerst gefangen gehalten worden.«
Reeve klickt zu einem anderen Sender. Eine Stimme aus dem Off: »… einem Wald, wo Tilly Cavanaugh letztendlich befreit wurde. Dieses zweite Haus, das weiter draußen liegt und über einen sehr viel größeren Keller verfügt …«
Reeve schaltet wieder zurück. Wieder zum ersten Sender. Wieder zurück. Nimmt Nachrichten in kleinen Dosen auf, versucht zu filtern und hört sich an, wie Reporter sich angestrengt bemühen, den Fall aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Einer entlockt normalen Bürgern empörte und verzweifelte Kommentare und füllt damit ganz offensichtlich nur Sendezeit. Ein anderer spekuliert, welche Punkte morgen bei der mit Spannung erwarteten Anklageerhebung gegen Vanderholt vorgebracht werden könnten.
Beide Sendungen zeigen Bilder von Hunden, die an ihren Leinen zerren und ihre Halter durchs Gestrüpp schleifen. Ein Sprecher äußert sein Bedauern darüber, dass die Leichenspürhunde – »wie wir aus gut informierten Quellen erfahren haben« – keine Spur der anderen vermissten Mädchen, Abby Hill und Hannah Creighton, gefunden haben. Es werden Fotos der Mädchen eingeblendet – frisch gewaschene, gesunde, niedliche Kinder –, während die Reporter geschickt Vermutungen mit Fakten verbinden.
Die bittere Wahrheit lautet, dass Vanderholt das Zentrum der Aufmerksamkeit ist und sich in den kommenden Monaten oder sogar Jahren eine Menge erfahrener Juristen mit ihm herumschlagen werden. Noch sprechen alle unerschütterlich von Randy Vanderholt als »Verdächtigem« oder »mutmaßlichem Entführer«, nicht als sadistischem, krankem Schwein. Einmal hört sie auch »der Mann, der morgen vor Gericht erscheinen wird«.
»Eines ist jedenfalls sicher«, verspricht eine Moderatorin der Kamera lächelnd. »Dieser Fall wird ein ganz großer Medienrummel!«
Reeve schaltet den Fernseher aus und lässt sich aufs Bett zurückfallen. Verdammt! Wenn Nick Hudson ihr keinen Einblick in Vanderholts Akte gewährt, dann fragt sie eben Dr. Lerner nach seinem Exemplar.
Wissen die Cops überhaupt, dass Vanderholt nicht raucht? Und was zum Teufel treibt einen Mann dazu, ein Mädchen mit Zigaretten zu verbrennen?
Mit seinen vollen Lippen und seinen teigigen Zügen sieht Vanderholt Daryl Wayne Flint nicht einmal ansatzweise ähnlich, aber Reeve geht davon aus, dass Tillys Entführer seine perverse Psyche genauso als Verteidigungsargument einsetzen wird, wie Flint es damals getan hat. Bilder von Daryl Wayne Flint steigen auf und flirren wir Staub um sie herum. Sein drahtiger Bart, die gelben Zähne. Verfärbte Fingernägel. Seine buschigen Augenbrauen und der
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