Und nie sollst du vergessen sein
Ich darf dich doch zum Essen einladen?â
Obwohl es bereits kurz vor zwölf Uhr war, herrschte im Gastraum gähnende Leere. Während in der Hochsaison sogar der groÃe Speisesaal, der vom Eingang rechts abging, voll besetzt war, waren heute nur zwei Tische belegt. Direkt gegenüber der Theke hatte es sich ein weiÃhaariger Mann â Emma vermutete, einer der Dorfältesten â mit Zottelschnurrbart, Jägerhut und in grüner Lodentracht gemütlich gemacht. Er nippte relativ leidenschaftslos an seinem frisch gezapften Bier und schien einer besseren Welt nachzuhängen, während am Tisch in der Ecke ein Rentnerpaar in Wanderausrüstung an seiner Tagessuppe löffelte. Das Klirren der Suppenlöffel und das monotone Summen der Kühlung der Zapfanlage waren die einzigen Geräusche, die den rustikalen Gastraum mit seinen roten Ãbergardinen, den gestärkten weiÃen Tischdecken und den hellbeigen Lampenschirmen aus Stoff erfüllten. Gemalte Landschaftsmotive des Südschwarzwaldes hingen gerahmt in verschiedenen GröÃen an allen Wänden, die nicht von der Holzvertäfelung eingefasst waren. Und in jeder Ecke thronte ein Kruzifix â so dominant, dass nicht nur jeder Atheist das Gefühl haben musste, Jesus Christus würde am Tisch dabeisitzen und mitessen.
Hier hat sich auch wirklich nichts verändert, erinnerte sie sich an ihren letzten Besuch im Gasthof Kranz zurück, während sie den beiden Männern durch den Gastraum folgte. Damals hatte ein Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr hier seinen runden Geburtstag gefeiert und auch Emmas Familie war zu diesem Fest eingeladen worden. âAuf einen mehr oder weniger kommt es hier bei uns nicht anâ, hörte sie noch Charlottes Worte nachklingen, und voller Sehnsucht dachte sie an den letzten gemeinsamen Sommer zurück.
Zum ersten Mal hatte ihr damals Charlotte von einem jungen Mann erzählt, der sie irgendwie in ihren Bann gezogen hatte. Er, schlank, sportlich, gebildet und aus gutem Hause, hatte sie ein Jahr zuvor beim Rosenfest zum Tanz aufgefordert. Elegant und doch selbstsicher, zärtlich und doch bestimmt, hatte er sie über die Tanzfläche geführt, fast so wie eine Prinzessin in einem kitschigen Märchen. Ja, sie sei verliebt, richtig glücklich, so Charlotte, auch wenn sie nicht wisse, wohin sie ihre Gefühle noch tragen würden. âAber erst einmal möchte ich jetzt Rosenkönigin werdenâ, hatte Charlotte noch gesagt, ehe sich die beiden Freundinnen am Tag des Rosenballs vor 15 Jahren verabschiedet hatten. Emma und ihre Familie hatten bereits am Nachmittag abreisen müssen. Damals sollte es ein Abschied auf Zeit sein. Doch es wurde einer, der bis jetzt, wenn nicht sogar für immer dauerte.
Nein, daran wollte Emma einfach nicht glauben, auch wenn sie nicht zuletzt durch ihren Beruf wusste, dass man alle Eventualitäten berücksichtigen musste. Selbst die, die einem das Denken daran verböten.
âSie scheinen ja keinen groÃen Appetit zu habenâ, stellte Richard Sutherfolk fest, der sich gerade ein Stück seines Rumpsteaks abschnitt und es anschlieÃend genüsslich durch die Sauce Béarnaise zog, während Emma gedankenverloren in ihrem groÃen Salatteller mit Putenstreifen stocherte.
âIch hoffe nur, Sie versteifen sich nicht auf Franzens abstruse Gedanken und jagen einer Theorie hinterher, die seiner, durch den Alkohol völlig verschwommenen Gedankenwelt entstammtâ, sagte Richard Sutherfolk mit einer Konsequenz, die selbst Reinhold Nägele zu überraschen schien. Doch ehe er darauf reagieren konnte, hakte Emma nach: âWas glauben Sie denn, ist mit Charlotte passiert?â
Reinhold Nägele schluckte. âWas hat denn jetzt meine Tochter mit Franzens Tod zu tun?â
âIch bin sicher, dass der Bauer nicht zufällig ermordet wurde. Vielleicht ist er ja sogar gerade deshalb umgebracht worden, weil er etwas wusste, was mit Charlottes Verschwinden zu tun hat.â
âIch begreife es einfach nicht. Du gehst genauso auf diese Geschichte ein wie schon Maria Reisinger. Auch sie hat auf Teufel komm raus an der Geschichte des alten Kerls festhalten wollen, auch wenn sie dafür sicherlich andere Motive hatte, als du sie jetzt hast.â Reinhold Nägele war so aufgebracht, dass er sein fast halb gefülltes Glas Wein in einem Zug leerte.
Das ist ja interessant, wenn auch Maria Reisinger den Worten
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