Und nie sollst du vergessen sein
Reisinger muss sich wohl vor ein paar Tagen mit dem toten Bauer unterhalten haben, der ihr wiederum so einiges über die finanziellen Machenschaften meines Alten erzählt haben muss. Die Reisinger hat einen auf Robin Hood gemacht und meinen Vater beschimpft und ihm gedroht, ihn anzuzeigen und mit diesem Wissen zur Polizei zu gehen, wenn er sich nicht selber anzeigen und den Leuten â sie muss wohl in ihrer wissbegierigen Art herausgefunden haben, dass noch weitere Nöggenschwieler meinem Alten auf den Leim gegangen sind â ihr investiertes Geld zurückgeben würde. Wie es scheint, war mein Alter doch nicht der Heilsbringer, für den ihn alle halten. So ein Pech.â
âUnd wann kam dieser Brief hier an?â
âGestern Morgen.â
siebenunddreiÃig
Richard Sutherfolk. Auch jetzt, fast zwei Stunden, nachdem ihr Thomas Albiez von dem Streit zwischen dem Rosenzüchter und Charlotte am Abend des Rosenballs erzählt hatte, wenige Stunden also, bevor ihre Freundin für immer verschwunden war, hallte der Name in Emmas Gehirn unvermindert nach. Es war wie ein Schlag auf einen Amboss, nur dass das Echo einfach nicht abebben wollte.
Sutherfolk war mir schon von Anfang an unsympathisch mit seiner arroganten und überheblichen Art, dachte Emma an ihre erste und bisher einzige Begegnung mit dem englischen Rosenzüchter zurück. Aber worum war es in dem Gespräch, in der Auseinandersetzung zwischen Charlotte und Richard Sutherfolk nur gegangen? Warum hatte gerade er von ihren Plänen, mit René Lusser in die Schweiz gehen zu wollen, gewusst? Und noch viel wichtiger: Warum hatte er versucht, sie davon abzubringen beziehungsweise sie zu überzeugen, dass sie einen Fehler machte, wenn sie ohne ein Wort und noch am Abend ihrer Krönung Nöggenschwiel verlassen würde?
Wie sie es auch drehte und wendete, sie fand einfach keine alles erklärenden Antworten auf ihre vielen Fragen. So hatte sie sich dann â kurz nachdem Thomas Albiez mit seinem Wagen den Rathausplatz Richtung Waldshut-Tiengen verlassen hatte â für einige Minuten in die St. Stephan-Kirche gesetzt in der Hoffnung, die Stille würde ihr helfen, ihre Gedanken zu sortieren. Doch genau das Gegenteil war der Fall gewesen und so hatte sie die Kirche überstürzt verlassen. Sie war schon an der Heubacher Kapelle oberhalb des Heubacher Weilers, an der die KreisstraÃe weiter nach Weilheim führte und die genau als Wegweiser den Scheitelpunkt der kleinen Anhöhe markierte, als es plötzlich heftig zu schneien begann. So hatte sie dann unter dem kleinen Vordach der Kapelle etwas Schutz gesucht, auch wenn sie wusste, dass, wenn Frau Holle erst einmal ihre groÃen Kissen über dem Südschwarzwald ausschüttelte, es sich richtig einschneite und sie daher zusehen sollte, wie sie wieder schnell zurück ins Dorf kam â sollte ihr nicht das gleiche Schicksal widerfahren wie Andreas Baumgartner und Theresia Binkert, für die die zwei Gedenksteine vor der Kapelle aufgebaut worden waren. Beide Nöggenschwieler, so wusste Emma von ihren Vermietern, hatten es in zwei extrem harten Wintern, in denen heftige Schneeverwehungen über diese Anhöhe hinweggefegt waren, nicht mehr rechtzeitig geschafft, im âSchirmhäuschenâ Schutz zu finden. Während der rechte Stein mit der stark verwitterten Inschrift an den ehemaligen Lehrer des Dorfes erinnerte, der am 12. November 1848 erfroren aufgefunden worden war, sollte der linke der damals 64-jährigen Witwe Theresia Binkert gedenken, die hier am 8. Februar 1889 auf dem sechs Kilometer langen Heimweg von Weilheim nach Nöggenschwiel erfroren war.
Gedankenvertieft war sie dann die KreisstraÃe Richtung Nöggenschwiel hinabgelaufen. Als sie die Anhöhe langsam nach unten ging, lag der Ort â mittlerweile kräftig eingepudert â in seiner ganzen Ausdehnung vor ihr und sie musste augenblicklich noch einmal an Andreas Baumgartner und Theresia Binkert denken, die nur noch wenige Meter hätten weitergehen müssen. Dann hätten sie den Ort sehen können und vielleicht dadurch noch einmal ihre letzten Kräfte mobilisieren können. Vielleicht, dachte Emma. Vielleicht. Wie schnell geben wir auf, obwohl wir nicht nur das Ziel vor Augen haben, sondern oft schon angekommen sind und es nur nicht erkennen. Meistens dann, wenn es bereits zu spät ist. Augenblicklich musste sie an ihren GroÃvater denken, der
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