Und nie sollst du vergessen sein
nicht wie ein Rosenzüchter, sondern eher wie ein Investmentbanker oder Geschäftsführer aussah.
âDarf ich hereinkommen?â
âKlar, nur, der Alte ist nicht da.â Es schien nicht, als hätte Richard Sutherfolk die freundliche, aber bestimmte Abweisung vernommen. Gedankenversunken ging er an dem jungen Mann vorbei in den groÃen und weitläufigen Flur. Er fühlte sich bei dieser ganzen GröÃe fast ein wenig verloren. Aber da musste er jetzt durch.
An einer Bilderwand blieb er stehen. Dort hingen nur Familienbilder. Auch wenn der Begriff etwas übertrieben zu sein schien, war doch ausnahmslos eine einzige Person auf den Fotos zu sehen.
âWillst du hier dann warten?â
âIch ...â, er brach ab, als er ein Foto in der Reihe besonders lange anstarrte. Gerald folgte seinem Blick.
âOder gehts mal wieder um meine Schwester?â
Entsetzt schaute Richard ihn an: âDu weiÃt was?â
âHier gehts doch immer nur um Charlotte.â Verbittert nahm er das in einem goldenen Rahmen gefasste Bild, um es im nächsten Augenblick achtlos auf den Boden fallen zu lassen. Das Glas zersprang in mehrere Teile, auch ein Stück des Rahmens war abgeplatzt, doch das Lächeln der jungen Frau auf dem Bild hatte selbst in diesem Scherbenhaufen nichts an seiner Schönheit und Strahlkraft verloren.
âAuch jetzt noch. Selbst in ihrer Abwesenheit ist sie ständig präsent.â Er schaute Richard Sutherfolk lange und durchdringend an.
fünfundvierzig
Fast zehn Minuten lang stand Emma an der Mauer des Kirchenschiffs angelehnt, blickte über die akkurat angelegten Gräber des Friedhofs hinweg und dachte nach.
Es waren nicht nur seine bitteren Worte, über die sie grübelte. Es war das verstörende Bild eines rachsüchtigen, aber auch tief gekränkten, verletzten René, das sie so irritierte. Das sie einfach nicht einzuordnen wusste.
Sie fragte sich unentwegt, wer ihm und vor allem wie man ihm Charlottes Eskapaden beigebracht hatte. War es jemand, der ihm nahestand, der ihm die Wahrheit als Freund sagen wollte, oder war es jemand, der sich daran ergötzte, ihm noch zusätzliche Schmerzen zu bereiten? Und was wollte derjenige oder diejenige damit bezwecken?
Augenblicklich musste sie an Franz Marder und an Maria Reisinger denken. Hatten sie ihm von Charlottes Doppelleben erzählt und waren sie deshalb, aus Rache, weil sie alles gewusst, aber 15 Jahre lang die Wahrheit verschwiegen hatten, ums Leben gekommen? Sie schalt sich für diesen Gedanken und verwarf ihn deshalb gleich wieder. René Lusser war sicherlich ein Mann, dem viel zuzutrauen war, gerade, wenn er verletzt war. Aber einen Mord oder sogar mehrere? Und eigentlich müsste man sich ja an Charlotte rächen, dachte Emma, während sie über den Friedhof lief.
Der menschliche Antrieb kennt nur zwei Pole, sinnierte sie. Der Mensch handelt entweder, um etwas zu erreichen oder etwas zu vermeiden, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Psychologin Maya Kirscher-Kresch, die ein groÃer Fan dieser Theorie war und jedwedes menschliches Vorankommen in Gesellschaft, Politik und auch in der Liebe daran festzumachen glaubte. Es war ihr Schlüsselwort, und auch Emma hatte sich von diesem Prinzip menschlicher Antriebskraft überzeugen lassen. Ãbertragen auf René und sein Wissen um Charlottes Fremdgehen hätte er sich wirklich an ihr rächen müssen. Oder es musste einen Grund geben, warum er es nicht getan hat. Aber das Entscheidende war, so erinnerte sie sich an seine Worte, dass er, hätte er sich an Charlotte rächen wollen, zu spät gekommen wäre.
Bei diesem Gedanken erschrak sie so sehr, dass sie fast über die hohe Marmorkante eines Grabsteins gestolpert wäre. Sie war mittlerweile am Ende des Friedhofes angelangt. Eine dichte und immergrüne Hecke aus Bäumen und Sträuchern grenzte den Gottesacker von dem dahinter liegenden Grundstück ab. Eichen, Erlen, Traubenkirschen, Weiden sowie Holunder- und Schnellballsträucher bildeten ein undurchdringbares Dickicht. Sie wollte schon umkehren, als sie plötzlich ein schwaches Geräusch vernahm, das sich im ersten Moment wie das Klingen eines Glöckchens anhörte. Sie hielt inne, um das Geräusch besser lokalisieren zu können. Doch sie konnte, egal wohin sie schaute, nichts auf dem Friedhof erkennen, was dieses Geräusch auslöste. Sie war alleine, ihr Mobiltelefon hatte
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